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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Sie gut darauf auf, meine Liebe – wir wollen doch nicht, dass es in die falschen Hände gerät, nicht wahr?«
    Erst als sie zu Hause war, öffnete Dolly das Päckchen. Es hatte sie ihre ganze Selbstbeherrschung gekostet, es nicht aufzureißen, kaum dass Mrs. Hoskins ihr den Rücken zugekehrt hatte. Stattdessen hatte sie es in ihrer Handtasche verstaut, und dort war es geblieben, bis ihre Schicht in der Kantine zu Ende war und sie auf schnellstem Weg in die Campden Grove geeilt war.
    Als sie ihre Zimmertür schloss, starb sie fast vor Neugier. Sie setzte sich, wie sie war, aufs Bett und nahm das Päckchen aus ihrer Handtasche. Während sie das Seidenpapier vorsichtig auseinanderfaltete, fiel ihr etwas in den Schoß. Dolly nahm es in die Hand und drehte es nach allen Seiten. Es war ein zierliches, ovales Medaillon an einer zarten Halskette aus Rotgold. Sie sah sofort, dass ein winziges Kettenglied sich geöffnet hatte. Sie hakte es vorsichtig wieder ein und drückte es mit dem Daumennagel zusammen.
    So – repariert. Geradezu fachmännisch. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete sie das Medaillon. Es war so eins von der Sorte, die zum Aufbewahren von Fotos dienten, stellte sie fest, während sie mit dem Daumen über die fein verschnörkelte Gravur auf dem Deckel fuhr. Dolly klappte das Medaillon auf. Es enthielt Fotos von vier Kindern, zwei Jungen und zwei Mädchen, die auf einer Holztreppe saßen und ins Sonnenlicht blinzelten. Die beiden kleinen Ovale waren offenbar aus ein und demselben Foto ausgeschnitten worden, um in das Medaillon zu passen.
    Dolly erkannte Vivien sofort, sie war das kleinere der beiden Mädchen, das ans Treppengeländer gelehnt stand und einem der Jungen eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, einem schmächtigen Kind, das ein bisschen einfältig wirkte. Das waren Viviens Geschwister, dachte Dolly, zu Hause in Australien. Das Foto war vermutlich aufgenommen worden, kurz bevor man Vivien zu ihrem Onkel nach England geschickt hatte. Bevor sie in einem Turm auf dem herrschaftlichen Familiensitz zur jungen Frau heranwuchs, dem Ort, wo sie schließlich den gut aussehenden Henry Jenkins kennenlernen und heiraten sollte. Ein wohliger Schauder überlief Dolly. Es war wie in einem Märchen – und genauso wie in Henry Jenkins’ Buch.
    Es gefiel ihr, Vivien als Kind zu sehen. »Ich wünschte, ich hätte dich damals schon gekannt«, murmelte Dolly, was eigentlich albern war, denn es war viel spannender, sie jetzt zu kennen, die eine Hälfte des Gespanns Dolly und Viv aus der Campden Grove zu sein. Sie betrachtete das Gesicht des kleinen Mädchens, die Züge in dem Kindergesicht, die sie an der erwachsenen Vivien so bewunderte, und dachte, wie seltsam es doch war, dass man jemanden so sehr lieben konnte, den man doch erst seit so kurzer Zeit kannte.
    Als sie das Medaillon zuklappte, sah sie, dass auf der Rückseite ein Name eingraviert war. »Isabel«, las sie laut. Viviens Mutter vielleicht? Dolly konnte sich nicht erinnern, von Vivien den Namen ihrer Mutter erfahren zu haben, aber es wäre naheliegend. Es war die Art Foto, das eine Mutter am Herzen tragen würde: alle ihre Kinder beisammen, die für den durchreisenden Fotografen lächelten. Dolly war noch viel zu jung, um an eigene Kinder zu denken, aber wenn sie eines Tages welche hätte, würde sie genauso ein Foto von ihnen in einem Medaillon tragen.
    Eins war sicher: Dieses Medaillon musste Vivien viel bedeuten, wenn es ihrer Mutter gehört hatte. Dolly würde es wie ihren Augapfel hüten. Sie überlegte einen Moment, dann lächelte sie – sie würde es am sichersten Ort aufbewahren, den sie kannte. Sie öffnete den Verschluss und legte sich die Kette um. Sie seufzte zufrieden und glücklich, als das Medaillon in ihren Ausschnitt glitt und das kalte Metall ihre warme Haut berührte.
    Dolly zog die Schuhe aus, warf ihre Uniformmütze auf die Fensterbank und ließ sich aufs Bett zurücksinken, die Knöchel übereinandergeschlagen. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies Rauchringe in Richtung Zimmerdecke. Wie erfreut Vivien sein würde, wenn sie ihr das Medaillon zurückgab, dachte sie. Wahrscheinlich würde sie Dolly umarmen und »meine Liebste« zu ihr sagen, und ihre schönen dunklen Augen würden sich mit Tränen füllen. Sie würde Dolly bitten, sich neben sie aufs Sofa zu setzen, und dann würden sie über Gott und die Welt plaudern. Wenn sie endlich Zeit füreinander hätten, würde sie Dolly vielleicht sogar von diesem Arzt

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