Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Eingangshalle mit einer breiten Treppe, die in den ersten Stock führte, und einer Tür zur Linken. Aber als sie Henry Jenkins ins Wohnzimmer folgte, stellte sie fest, dass die Ähnlichkeiten hier endeten. Das Haus der Jenkins’ war ganz offensichtlich in diesem Jahrhundert eingerichtet worden; im Gegensatz zu Lady Gwendolyns düsteren Räumen mit den schweren, geschwungenen Mahagonimöbeln und den alten Gemälden an den Wänden herrschten hier Licht und klare Linien vor.
Dolly war beeindruckt: Der Boden war mit Parkett ausgelegt, und an der Decke hingen zwei röhrenförmige Leuchten aus Milchglas. Die Wände waren dekoriert mit großformatigen Fotografien von zeitgenössischen Bauwerken, und auf einer Armlehne des lindgrünen Sofas lag ein Zebrafell. Alles war so elegant und modern – Dolly musste sich zusammenreißen, um nicht mit offenem Mund stehen zu bleiben, während sie alles auf sich wirken ließ.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Henry Jenkins und zeigte auf einen muschelförmigen Sessel vor dem Fenster. Dolly setzte sich, glättete ihren Rock und schlug die Beine übereinander. Plötzlich machte das Kleid sie verlegen. Zu seiner Zeit war es hübsch gewesen, aber in dieser Umgebung wirkte es wie ein Museumsstück. Als sie sich in Lady Gwendolyns Ankleidezimmer vor dem Spiegel hin und her gedreht hatte, war sie sich so elegant vorgekommen; jetzt sah sie nur noch altmodische Ziernähte und Volants (warum waren ihr die nicht vorher aufgefallen?).
»Ich würde Ihnen ja gern einen Tee anbieten«, sagte Henry Jenkins und rieb sich ein bisschen linkisch den Schnurrbart, was Dolly jedoch charmant fand, »aber wir haben diese Woche unsere Küchenhilfe verloren. Eine bittere Enttäuschung – wir haben sie beim Stehlen erwischt.«
Dolly bemerkte, dass er ihre Beine betrachtete, und ihr Herz begann zu klopfen. Sie lächelte peinlich berührt – schließlich war er Viviens Ehemann –, aber auch geschmeichelt. »Oh, das tut mir leid«, sagte sie, dann fiel ihr ein, was Lady Gwendolyn ständig in diesem Zusammenhang sagte. »Heutzutage ist es sehr schwierig, gutes Personal zu finden, nicht wahr?«
»Allerdings.« Henry Jenkins stand neben dem eindrucksvollen offenen Kamin, der mit schwarzen und weißen Kacheln gefliest war. Er sah Dolly fragend an: »Und Sie und meine Frau, Sie kennen sich woher?«
»Wir haben uns beim Freiwilligendienst kennengelernt und schnell festgestellt, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben.«
»Ja, ja, der Freiwilligendienst – der nimmt viel Zeit in Anspruch, nicht wahr?« Er lächelte eher gequält, und die Art, wie er sie anschaute, gab ihr das Gefühl, dass er irgendetwas ganz Bestimmtes wissen wollte, etwas, wonach er aber nicht direkt fragen mochte. Sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte, also erwiderte sie sein Lächeln und hielt den Mund. Henry Jenkins warf einen Blick auf seine Uhr. »Heute zum Beispiel. Beim Frühstück hat meine Frau mir gesagt, ihre Besprechung sei um zwei Uhr zu Ende. Ich bin ein bisschen früher nach Hause gekommen, um sie zu überraschen, aber jetzt ist es schon Viertel nach drei, und immer noch keine Spur von ihr. Ich nehme an, dass sie aufgehalten wurde, aber man macht sich doch so seine Gedanken.«
Er klang leicht gereizt, und Dolly konnte sich vorstellen, war um – er war ein bedeutender Mann, der seine kriegswichtige Tätigkeit unterbrochen hatte, nur um im Haus Däumchen zu drehen, während seine Frau in der Stadt herumbummelte.
»Sind Sie mit meiner Frau hier verabredet?«, fragte er unvermittelt, als wäre ihm plötzlich in den Sinn gekommen, dass die Unpünktlichkeit seiner Frau auch für Dolly ein Ärgernis darstellte.
»Nein, nein«, sagte sie hastig. Die Vorstellung schien ihm nicht zu behagen, und sie wollte ihn beruhigen. »Vivien weiß nicht, dass ich hier bin. Ich wollte ihr nur etwas bringen, das sie verloren hat.«
»Ach?«
Dolly nahm die Halskette aus ihrer Handtasche und legte sie vorsichtig über ihre Hand. Sie hatte sich für alle Fälle mit dem letzten Rest von Kittys Coty Crimson die Fingernägel lackiert.
»Ihr Medaillon«, murmelte Henry Jenkins und nahm es an sich. »Das hat sie getragen, als wir uns kennenlernten.«
»Es ist sehr hübsch.«
»Sie trägt es seit ihrer Kindheit. Egal was ich ihr kaufe, mag es noch so schön und teuer sein, sie trägt immer nur diese eine Halskette. Sie legt sie nicht einmal ab, wenn sie ihre Perlenkette trägt. Ich glaube nicht, dass ich sie jemals ohne diesen Schmuck gesehen
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