Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
und taten dauernd Dinge, die sie normalerweise nicht getan hätten. Man wusste nie, was der nächste Tag bringen würde, ja, nicht mal, ob man den nächsten Tag überhaupt noch erleben würde – diese Unsicherheit hat die Leute leichtsinnig gemacht. Und Ihre Mutter hatte schon immer einen Hang zu dramatischen Auftritten. Ich dachte, ihr Gerede von Rache wäre nichts weiter als – nun ja, Gerede eben. Erst hinterher ist mir klar geworden, dass sie es wahrscheinlich ernster gemeint hatte, als ich wahrhaben wollte.«
Laurel trat ein bisschen näher an Kitty heran. »Hinterher?«
»Sie war ganz plötzlich verschwunden – als hätte sie sich in Luft aufgelöst. An dem Abend in dem Tanzklub habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Ich habe nie wieder von ihr gehört, kein Wort, und sie hat auch keinen meiner Briefe beantwortet. Ich dachte schon, sie wäre bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, bis mich kurz nach dem Krieg eine ältere Frau aufgesucht hat. Sie hat richtig geheimnisvoll getan – hat mich über Dolly ausgequetscht, wollte wissen, ob sie mal irgendwas ›Schlimmes‹ getan hätte.«
Laurel musste an das kühle Schlafzimmer im Haus ihrer Großmutter Nicolson denken. »Eine große, gut aussehende Frau mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie in eine Zitrone gebissen?«
Kitty hob eine Braue. »Eine Bekannte von Ihnen?«
»Meine Großmutter. Väterlicherseits.«
»Aha.« Kitty grinste. »Die Schwiegermutter. Das hat sie nicht erwähnt, sie hat nur gesagt, sie sei die Arbeitgeberin Ihrer Mutter und wollte sich über ihre Angestellte informieren. Die beiden haben also tatsächlich geheiratet, Ihre Mom und Ihr Dad – er muss ganz verrückt nach ihr gewesen sein.«
»Wie kommen Sie darauf? Was haben Sie meiner Großmutter erzählt?«
Kitty blinzelte, die Unschuld in Person. »Ich fühlte mich ziemlich gekränkt. Ich hatte mir Sorgen um Dolly gemacht, als ich nichts von ihr hörte, und dann zu erfahren, dass sie einfach abgehauen war und es nicht mal nötig gehabt hatte, mir eine Nachricht zukommen zu lassen.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich hab die Tatsachen vielleicht ein bisschen ausgeschmückt, Dolly ein paar Liebhaber angedichtet, die sie nie gehabt hatte, einen Hang zum Alkohol … nichts Ernstes.«
Aber es war ausreichend, um zu erklären, warum Grandma Nicolson Dolly nie hatte leiden können: Liebhaber waren schon schlimm genug, aber ein Hang zum Alkohol? Das war fast schon ein Sakrileg.
Plötzlich wollte Laurel nur noch weg aus dem vollgestopften Haus und mit ihren Gedanken allein sein. Sie bedankte sich bei Kitty Barker und nahm ihre Sachen.
»Grüßen Sie Ihre Mutter von mir, ja?«, sagte Kitty, während sie sie zur Tür begleitete.
Laurel versprach, das zu tun, und zog sich ihren Mantel über.
»Wir haben uns nie richtig voneinander verabschiedet. Ich habe in all den Jahren oft an sie gedacht, vor allem, seitdem ich erfahren hatte, dass sie den Krieg überlebt hat. Aber ich hätte auch nicht viel tun können – Dolly war sehr zielstrebig, eine von diesen jungen Frauen, die immer bekommen, was sie haben wollen. Wenn jemand wie sie plant, alle Spuren zu verwischen, dann gelingt ihr das auch, und dann findet sie niemand.«
Bis auf Henry Jenkins, dachte Laurel, als Kitty Barker die Tür hinter ihr schloss. Er hatte sie gefunden, und Dorothy hatte dafür gesorgt, dass er den Grund, warum er sie gesucht hatte, an jenem Tag in Greenacres mit ins Grab genommen hatte.
Laurel saß bei laufendem Motor in dem grünen Mini vor Kitty Barkers Haus. Die Heizung lief auf vollen Touren, und sie hoffte, dass es bald ein bisschen wärmer im Auto werden würde. Es war schon nach fünf, und es wurde allmählich dunkel. Die Türme der Universität von Cambridge hoben sich gegen den grauen Himmel ab, aber Laurel sah sie nicht. Sie sah ihre Mutter vor sich – die junge Frau auf dem Foto, das ihre Schwester gefunden hatte –, wie sie in dem Tanzklub Kitty Bar ker am Handgelenk gefasst hielt und ihr atemlos von ihrem Racheplan erzählte. »Was ist damals passiert, Dorothy?«, murmelte Laurel, während sie in ihrer Handtasche nach Zigaretten kramte. »Was in aller Welt hast du bloß getan?«
Ihr Handy klingelte, und sie klappte es auf in der vagen Hoffnung, es könnte Gerry sein, der endlich auf ihre Nachrichten reagierte.
»Laurel? Hier ist Rose. Phil trifft sich heute Abend mit ein paar Freunden, und ich dachte, du würdest dich vielleicht über ein bisschen Gesellschaft freuen. Ich
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