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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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erzählen, ihrem Liebhaber.
    Sie zog das Medaillon zwischen ihren Brüsten hervor und betrachtete den kunstvoll gestalteten Deckel. Die arme Vivien musste am Boden zerstört sein bei dem Gedanken, sie hätte es für immer verloren. Dolly überlegte, ob sie ihr so schnell wie möglich mitteilen sollte, dass das Kleinod in Sicherheit war – vielleicht in einem Brief, den sie durch den Schlitz in der Haustür werfen konnte? Doch sie entschied sich dagegen. Sie besaß kein eigenes Briefpapier, im Haus gab es nur solches mit Lady Gwendolyns Monogramm, und das zu benutzen schien ihr nicht recht. So etwas erledigte man am besten persönlich. Die große Frage war nur, was sie anziehen sollte.
    Dolly drehte sich auf den Bauch und zog ihr Ideenbuch unter dem Bett hervor. Mrs. Beeton’s Ratgeber für die junge Hausfrau hatte sie nicht interessiert, als ihre Mutter es ihr geschenkt hatte, aber Papier war in diesen Zeiten Gold wert, und das Buch hatte sich als perfektes Album für all die Fotos erwiesen, die sie aus The Lady ausschnitt. Seit über einem Jahr sammelte Dorothy diese Bilder, die sie über die Haushaltsregeln und Kochrezepte der guten Mrs. Beeton klebte. Sie blätterte in dem Buch, studierte die Garderobe der elegantesten Frauen und verglich sie in Gedanken mit den Kleidern, die sie oben im Ankleidezimmer entdeckt hatte. Auf einem Bild, das sie erst kürzlich eingeklebt hatte, blieb ihr Blick haften. Vivien, fotografiert bei einer Spendengala im Ritz; in dem zarten Kleid aus kostbarer Seide sah sie umwerfend aus. Verträumt fuhr Dolly mit dem Finger über das Mieder und den Rock – ein ganz ähnliches Kleid befand sich oben in der Kammer; sie brauchte es nur ein bisschen abzunähen, dann wäre es perfekt. Sie lächelte vor sich hin, als sie sich ausmalte, wie schön sie in dem Kleid aussehen würde, wenn sie über die Straße eilte, um mit Vivien Jenkins Tee zu trinken.
    Drei Tage später legte Lady Gwendolyn ihre Tüte mit Süßigkeiten früher als gedacht beiseite und bat Dolly, die Vorhänge zuzuziehen, sie wolle ein Nickerchen machen. Es war noch nicht einmal drei Uhr, und Dolly ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie wartete, bis die alte Dame eingeschlafen war, dann schlüpfte sie in das gelbe Kleid, das sie bereits geändert hatte, und lief über die Straße.
    Als sie auf der obersten Stufe vor der Haustür stand, stellte sie sich Viviens Gesicht vor, wenn sie öffnete und Dolly dort stehen sah, das erleichterte Lächeln, wenn sie sich zum Tee aufs Sofa setzten und Dolly ihr das Medaillon überreichte. Sie hätte Luftsprünge machen können vor freudiger Erregung.
    Sie ordnete noch einmal ihr Haar, kostete den Moment aus, dann klingelte sie.
    Während sie wartete, lauschte sie auf die Geräusche, die ihr verrieten, dass sich jemand näherte, dann wurde die Tür aufgerissen, und eine Stimme sagte: »Hallo, Lieb…«
    Unwillkürlich trat Dolly eine Stufe tiefer. Henry Jenkins stand im Türrahmen; aus der Nähe wirkte er viel größer als von Weitem, attraktiv und verwegen wie alle erfolgreichen Männer. In seinem Ausdruck lag beinahe etwas Brutales, was jedoch sofort verflog, und Dolly sagte sich, dass sie sich das wahrscheinlich nur eingebildet hatte, überrascht, wie sie war. Mit einer solchen Situation hatte sie nicht gerechnet. Henry Jenkins bekleidete ein hohes Amt im Informationsministerium und war tagsüber fast nie zu Hause. Dolly öffnete den Mund und machte ihn wieder zu; sie fühlte sich eingeschüchtert von dem Mann, von seiner Größe und seinem düsteren Blick.
    »Ja bitte?«, sagte er. Seine Wangen waren leicht gerötet, und Dolly fragte sich flüchtig, ob er getrunken hatte. »Sammeln Sie Lumpen? Wir haben bereits alles weggegeben.«
    Dolly fand ihre Sprache wieder. »Nein, nein. Verzeihen Sie«, sagte sie. »Ich sammle nichts. Ich bin hier, um Vivien … Mrs. Jenkins zu besuchen.« So, jetzt war es heraus, und sie entspannte sich wieder. Sie lächelte Jenkins an. »Ich bin eine Freundin Ihrer Frau.«
    »Aha.« Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Eine Freundin meiner Frau. Und wie lautet der Name der Freundin meiner Frau?«
    »Dolly … äh, ich meine, Dorothy. Dorothy Smitham.«
    »Na, dann kommen Sie mal herein, Dorothy Smitham.« Er ging zur Seite und machte eine einladende Geste.
    Es war das erste Mal, dachte Dolly, dass sie, seit sie in der Campden Grove wohnte, das Haus Nr. 25 betrat. Soweit sie erkennen konnte, war es ähnlich geschnitten wie das Haus Nr. 7, eine

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