Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
der Nähe der Stadt, in der Grandma Nicolson gewohnt hatte. Das Datum auf der Fahrkarte lautete 23. Mai 1941.
20
London, Februar 1941
J immy eilte quer durch London, ungewohnt beschwingt. Er hatte seit Wochen keinen Kontakt zu Dolly gehabt – sie hatte sich geweigert, ihn zu empfangen, als er sie in der Campden Grove besuchen wollte, und sie hatte keinen seiner Briefe beantwortet –, und jetzt plötzlich das. Er konnte ihren Brief in seiner Hosentasche fühlen, in derselben Tasche, in der er an jenem furchtbaren Abend den Ring gehabt hatte –, und er konnte nur hoffen, dass das kein böses Omen war. Der Brief war Anfang der Woche in der Redaktion eingetroffen, eine kurze Notiz, in der sie ihn dringend bat, sich mit ihr auf der Bank neben der Peter-Pan-Skulptur in Kensington Gardens zu treffen. Sie müsse mit ihm über etwas sprechen, etwas, von dem sie glaubte, dass es ihm gefallen würde.
Sie hatte es sich anders überlegt und wollte ihn heiraten. Das musste es sein. Doch Jimmy ermahnte sich, lieber keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, nachdem er so gelitten hatte, als sie ihn abgewiesen hatte. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken – seine Hoffnungen, zugegeben – immer wieder zu dem gleichen Schluss kamen. Was sonst konnte es sein? Etwas, das ihm gefallen würde: Da kam für ihn nur eins infrage. Und Jimmy konnte weiß Gott eine gute Nachricht gebrauchen.
Sie waren vor zehn Tagen ausgebombt worden. Es war wie aus dem Nichts gekommen. In letzter Zeit war es ziemlich ruhig gewesen, aber am 18. Januar war eine Streubombe direkt in Jimmys Wohnung eingeschlagen. Er war nach einem Auftrag für die Zeitung erst spät nach Hause gekommen und hatte das Feuer sofort gesehen, als er um die Ecke gebogen war. Mit angehaltenem Atem war er losgelaufen. Er hatte nur noch seinen eigenen keuchenden Atem gehört, als er sich durch die Trümmer gearbeitet und immer wieder den Namen seines Vaters gerufen hatte, während er sich innerlich dafür verfluchte, dass er keinen sichereren Ort für sie beide gefunden hatte, dass er nicht da gewesen war, als sein Vater ihn am meisten gebraucht hatte. Als er Finchies zerbeulten Käfig gefunden hatte, hatte er vor Schmerz und Trauer einen Schrei ausgestoßen wie ein Tier, einen Schrei, der ihm selbst fremd vorkam. Mit Grauen war ihm plötzlich klar geworden, dass er sich in der Szene eines seiner eigenen Fotos befand, nur dass das Haus diesmal sein Haus war, die verbrannten Möbel seine Möbel, der Tote sein geliebter Vater, und in dem Augenblick hatte er gewusst, dass es ihm nicht ein einziges Mal wirklich gelungen war, die Wahrheit eines solchen Moments einzufangen, die Angst und die Panik und die verblüffend klare Erkenntnis, dass man alles verloren hatte.
Er hatte sich abgewandt und war auf die Knie gesunken, und da hatte er Mrs. Hamblin aus der Wohnung nebenan gesehen, die ihm von der anderen Straßenseite wie benommen zuwinkte. Er war zu ihr gegangen, hatte sie in die Arme genommen und an seiner Schulter schluchzen lassen, und auch er hatte geweint, heiße Tränen der Ohnmacht und der Trauer. Dann hatte sie den Kopf gehoben und gesagt: »Haben Sie Ihren Vater schon gesehen?«, und als Jimmy geantwortet hatte: »Ich konnte ihn nicht finden«, hatte sie die Straße hinunter gezeigt. »Ich glaube, er ist mit den Leuten vom Roten Kreuz gefahren. Ein netter junger Mann hat ihm eine Tasse Tee angeboten, und Sie wissen ja, wie sehr er …«
Mehr brauchte Jimmy nicht zu hören. Noch ehe Mrs. Hamb lin den Satz beendet hatte, war er zum Gemeindehaus gerannt, wo das Rote Kreuz untergebracht war. Er war durch die Tür gestürmt und hatte seinen Vater sofort gesehen. Sein alter Herr saß an einem Tisch, eine Tasse Tee vor sich und Finchie auf dem Unterarm. Mrs. Hamblin hatte ihn also rechtzeitig in den Luftschutzkeller gebracht. Noch nie in seinem Leben war Jimmy einem Menschen so dankbar gewesen. Er hätte ihr die Welt zu Füßen gelegt, wenn er gekonnt hätte, und es schmerzte ihn, dass er nichts besaß, das er ihr schenken konnte. Bei dem Bombeneinschlag hatte er neben allem anderen auch seine Ersparnisse verloren. Was ihm blieb, waren die Kleider, die er am Leib trug, und die Kamera, die er bei sich hatte. Er dankte Gott dafür, dass wenigstens die Kamera gerettet war, denn was hätte er ohne sie getan?
Jimmy schob sich beim Gehen die Haare aus der Stirn. Er versuchte, die Gedanken an seinen Vater und ihre winzige Notunterkunft zu verscheuchen. Der alte Mann war eine
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