Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
sicherlich eine sträfliche Nachlässigkeit, nicht zuallererst hier nachzusehen, oder? Die Truhe zu öffnen, war nicht schlimmer, als mit Kitty Barker zu reden oder nach den Aufzeichnungen dieses Dr. Rufus zu forschen oder in der Bibliothek nach Vivien Jenkins zu suchen. Aber es fühlte sich einfach anders an.
Laurel betrachtete das Vorhängeschloss. Sie wollte sich einreden, es sei nichts Besonderes – schließlich hatte ihre Mutter Rose kürzlich selbst gebeten, ihr das Buch aus der Truhe zu holen (und sie zog keins ihrer Kinder vor – außer Gerry, und der war sowieso ihrer aller Liebling); folglich würde es ihrer Mutter auch nichts ausmachen, wenn Laurel die Truhe öffnete. Das hieß vielleicht, die Logik ein bisschen zu strapazieren, aber sie hatte keine andere Wahl. Und wenn Dorothy erst einmal wieder zu Hause war, wäre es vorbei. Laurel wusste, dass sie es nie und nimmer fertigbrächte, die Truhe zu öffnen, während ihre Mutter eine Etage tiefer in ihrem Bett lag. Also jetzt oder nie.
»Tut mir leid, Ma«, sagte Laurel und drückte energisch ihre Zigarette aus. »Aber ich muss es wissen.«
Sie stand langsam auf und kam sich vor wie eine Riesin, als sie den Kopf einziehen musste, um zu der Truhe zu gelangen, die ganz hinten unter der Dachschräge stand. Sie kniete sich hin, schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete es. Das war der entscheidende Moment, und er versetzte ihr einen Stich. Selbst wenn sie den Deckel gar nicht anhob, der Sündenfall war erfolgt.
Dann konnte sie auch gleich aufs Ganze gehen, oder? Vorsichtig hob sie den Deckel der Truhe an. Die steifen, seit Ewigkeiten nicht bewegten Lederbänder knackten. Laurel hielt den Atem an. Sie war wieder ein Kind, das eine in Stein gemeißelte Regel brach. Ihr war beinahe schwindlig. Jetzt war der Deckel ganz offen. Laurel kippte ihn nach hinten, und die Lederbänder ächzten unter seinem Gewicht. Sie holte entschlossen Luft, fasste sich ein Herz und schaute in die Truhe.
Obenauf lag ein alter, vergilbter Brief, adressiert an Dorothy Nicolson in Greenacres. Auf der olivgrünen Briefmarke war die junge Königin Elizabeth in ihrer Krönungsrobe abgebildet; das Bild der Königin löste irgendeine Erinnerung aus, so als wäre es von Bedeutung, aber Laurel wusste nicht, warum. Der Brief wies keinen Absender auf. Laurel biss sich auf die Lippe, als sie den Umschlag öffnete und eine cremefarbene Karte herausnahm. Ein einziges Wort stand darauf, mit schwarzer Tinte geschrieben: Danke . Laurel drehte die Karte um, aber die Rückseite war unbeschriftet. Verwundert betrachtete sie die Karte mehrmals von beiden Seiten.
Es gab gewiss eine ganze Menge Leute, die Grund gehabt hätten, sich bei ihrer Mutter zu bedanken, aber das auf so anonyme Weise zu tun – kein Absender, keine Unterschrift –, das war wirklich merkwürdig; noch merkwürdiger war, dass Dorothy die Karte in einer verschlossenen Truhe aufbewahrt hatte. Es bewies jedoch, dachte Laurel, dass ihre Mutter genau gewusst hatte, wer ihr die Karte geschickt hatte; und dass das, wofür die Person sich bedankte, ein Geheimnis war.
All das war rätselhaft genug, um Laurels Puls zu beschleunigen, aber nicht unbedingt relevant in Bezug auf ihre Nachforschungen. Sie steckte die Karte in den Umschlag zurück und schob ihn an der Seite in die Truhe, wo er neben einer kleinen Holzfigur landete – Mr. Punch. Laurel lächelte bei der Erinnerung an die vielen Ferien, die sie bei Grandma Nicolson verbracht hatten.
Etwas Weiches lag in der Truhe, so groß, dass es sie fast ausfüllte. Zuerst hielt Laurel es für eine Decke, aber als sie es her ausnahm und ausschüttelte, stellte sie fest, dass es sich um einen Mantel handelte, einen zerschlissenen Pelz, der einmal weiß gewesen war. Laurel hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor sich, so wie man es in einem Laden tun würde, um zu überlegen, ob man das Kleidungsstück kaufen sollte oder nicht.
An der mittleren Tür des alten Kleiderschranks am anderen Ende des Dachbodens befand sich ein Spiegel. Als Kinder hatten sie sich beim Spielen in diesem Schrank versteckt; das heißt, Laurel hatte das getan, die anderen hatten sich zu sehr gefürchtet, und so war der Schrank zum perfekten Ort für sie geworden, wo sie vor den anderen ihre Ruhe hatte, wenn sie sich in ihre Fantasiewelt zurückziehen wollte.
Laurel stellte sich vor den Spiegel und zog den Mantel an. Sie drehte sich hin und her und betrachtete sich von allen Seiten. Der Mantel reichte ihr bis knapp
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