Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
über die Knie, er besaß vorne eine Knopfleiste und einen Gürtel in der Taille. Er war wunderschön geschnitten, egal was man von Pelzen hielt, mit viel Liebe zum Detail verarbeitet. Das gute Stück hatte sicherlich einmal ein Vermögen gekostet, als es neu war. Sie fragte sich, ob der Mantel ihrer Mutter gehört haben konnte, und wenn ja, wie eine junge Frau, die als Dienstmädchen arbeitete, sich so etwas Kostbares hatte leisten können.
Während sie ihr Spiegelbild betrachtete, kam eine alte Erinnerung an die Oberfläche. Es war nicht das erste Mal, dass Laurel diesen Mantel anhatte. Es war ein regnerischer Tag gewesen, und sie war noch ziemlich klein gewesen. Sie hatten schon den ganzen Tag die Nerven ihrer Mutter strapaziert, mit ihrem Gerenne die Treppe hoch und runter, bis Dorothy sie auf den Dachboden verbannt hatte, wo sie Verkleiden gespielt hatten. Die Nicolson-Kinder besaßen eine riesige Kiste mit alten Kleidungsstücken, von ihrer Mutter ständig aufgefüllt mit ausrangierten Mützen, Blusen und Schals, die sich mithilfe kindlicher Fantasie in kostbare Gewänder verwandeln ließen.
Während ihre Schwestern dabei waren, sich mit ihren Lieblingssachen zu schmücken, hatte Laurel in der Ecke des Dachbodens einen Beutel entdeckt, aus dem etwas Weißes, Pelziges hervorlugte. Sie hatte den Mantel herausgezogen und war hineingeschlüpft. Dann hatte sie sich vor genau diesem Spiegel hier bewundert und gestaunt, wie eindrucksvoll sie in dem Mantel aussah – wie eine böse, aber wunderschöne Schneekönigin.
Damals war Laurel noch ein Kind gewesen, deswegen waren ihr die kleinen kahlen Stellen im Pelz nicht aufgefallen, und auch nicht die dunklen Flecken am Saum. Aber die Autorität, die dieser prächtige Mantel seiner Trägerin verlieh, hatte sie durchaus wahrgenommen. Stundenlang hatte sie die böse Königin gespielt, ihre Schwestern in Käfige gesperrt, ihnen gedroht, ihre Wölfe auf sie zu hetzen, wenn sie es wagten, sich ihren Befehlen zu widersetzen, und ein schadenfrohes Hexenlachen gelacht. Bis ihre Mutter sie schließlich zum Essen nach unten rief, hatte Laurel sich so an den Mantel und die seltsame Macht, die er ihr verlieh, gewöhnt, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, ihn aus zuziehen.
Der Ausdruck in Dorothys Gesicht, als sie ihre älteste Tochter in die Küche kommen sah, war schwer zu deuten gewesen. Sie war offensichtlich alles andere als erfreut gewesen, aber sie hatte auch nicht geschimpft. Es war viel schlimmer gewesen. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, und ihre Stimme hatte gezittert, als sie sagte: »Zieh den Mantel aus. Zieh ihn sofort aus.« Als Laurel der Aufforderung nicht augenblicklich gefolgt war, hatte ihre Mutter einen Schritt auf sie zu gemacht und ihr den Mantel von den Schultern gerissen. Wie zur Entschuldigung murmelte sie, es sei viel zu heiß, und überhaupt, der Mantel sei so lang, dass sie auf der steilen Treppe am Ende noch stolpern würde. Laurel könne von Glück reden, dass sie nicht die Treppe heruntergefallen sei und sich das Genick gebrochen habe. Dann hatte sie Laurel angeschaut, den Mantel wie einen Lumpen unter dem Arm, und ihr Ausdruck war beinahe vorwurfsvoll gewesen, als hätte sie sich verraten gefühlt, beinahe ängstlich. Einen entsetzlichen Moment lang hatte Laurel befürchtet, ihre Mutter würde in Tränen ausbrechen. Aber stattdessen befahl sie Laurel, sich an den Tisch zu setzen, dann war sie mit dem Mantel verschwunden.
Laurel hatte den Pelzmantel nie wiedergesehen. Einmal hatte sie danach gefragt, das war ein paar Monate später gewesen, als sie ein Kostüm für ein Theaterstück in der Schule brauchte, aber Dorothy hatte, ohne sie anzusehen, nur gesagt: »Ach, den alten Fetzen? Den hab ich weggeworfen. Der hätte da oben auf dem Dachboden nur die Ratten angelockt.«
Und doch hatte ihre Mutter den Pelzmantel über all die Jahre hinweg in ihrer mit einem Vorhängeschloss gesicherten Truhe aufbewahrt. Laurel steckte die Hände in die Manteltaschen. Eine Tasche hatte ein Loch, und ihre Finger glitten ins Leere. Dann berührten ihre Fingerspitzen etwas, das sich anfühlte wie die Ecke eines Stücks Pappe. Laurel bekam es zu fassen und zog es durch das Loch in der Tasche heraus.
Es war eine kleine, weiße, rechteckige Karte, auf die etwas gedruckt war. Die Schrift war verblasst, und Laurel musste die Karte ins Sonnenlicht halten, um die Worte zu entziffern. Es handelte sich um eine Zugfahrkarte, einfache Fahrt von Lon don zum Bahnhof in
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