Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Ordnung wie in meinem Kopf – und mein Schrank enthielt eine erstaunliche Sammlung von Krimskrams. Unter anderem einen Brief, den ich vor drei Jahren von Viviens Onkel erhielt. Er schrieb mir, wie »erfreulich brav« sie sei (was mich beim erneuten Lesen genauso ärgerte wie damals – wie wenig er die wahre Vivien verstanden hat!). Er hatte ein Foto beigelegt, das sich immer noch in dem Umschlag befand. Sie war siebzehn, als das Foto gemacht wurde, und wie schön sie war – ich weiß noch, wie ich mich, als ich es zum ersten Mal sah, an eine Märchenfigur erinnert fühlte, Rotkäppchen vielleicht; große Augen und rosige Lippen und immer noch dieser offene, unschuldige Kinderblick. Und ich erinnere mich auch, wie ich dachte, hoffentlich wartet kein großer, böser Wolf auf sie.
Dass mir der Brief und das Foto ausgerechnet heute in die Hände fielen, machte mich nachdenklich. Als ich das letzte Mal »so ein Gefühl« hatte, lag ich nicht falsch. Damals habe ich nicht gehandelt, zu meinem tiefen Bedauern, aber ich werde nicht noch einmal tatenlos zusehen, wie meine junge Freundin einen Fehler begeht, den sie später bitter bereuen wird. Und da es mir offenbar nicht gelingt, meine Sorgen schriftlich zum Ausdruck zu bringen, werde ich nach London fahren und mit ihr reden.
Und das hatte sie anscheinend auch getan – und zwar unverzüglich –, denn der nächste Eintrag wurde erst vier Tage später gemacht.
Ich war in London, und es war schlimmer, als ich befürchtet hatte. Es war nicht zu übersehen, dass Vivien in diesen jungen Mann, Jimmy, verliebt ist. Natürlich hat sie es nicht zugegeben, dazu ist sie viel zu diskret, aber ich kenne sie, seit sie ein Kind ist, und ich sah es in ihren Augen, hörte es an ihrer Stimme. Schlimmer noch, es scheint, als hätte sie jede Vorsicht fahren lassen. Sie war bereits mehrmals in der Wohnung des jungen Mannes, in der er mit seinem kranken Vater zusammenlebt. Sie behauptete, es sei alles »ganz unschuldig«, worauf ich entgegnete, dass es so etwas wie »Unschuld« unter erwachsenen Menschen nicht gibt und dass derartige Unterscheidungen ihr nicht helfen werden, sollte sie sich eines Tages für diese Besuche rechtfertigen müssen. Sie sagte, sie würde »ihn nicht aufgeben« – dickköpfiges Kind –, was mich veranlasste, ihr in strengem Ton zu antworten: »Du bist verheiratet, meine Liebe!« Ich erinnerte sie an das Eheversprechen, das sie ihrem Mann in der Kirche in Nordstrom gegeben hatte, dass sie ihn lieben und ehren und ihm dienen würde, bis dass der Tod sie scheide, etc. pp. Ach, ich werde nie vergessen, wie sie mich daraufhin anschaute – die Enttäuschung in ihren Augen, als sie sagte, ich würde nichts verstehen.
Ich verstehe sehr wohl, was verbotene Liebe bedeutet, und das sagte ich ihr, aber sie ist jung, und die Jugend glaubt sich im alleinigen Besitz der Wahrheit. Es betrübt mich sagen zu müssen, dass wir im Streit auseinandergegangen sind – noch ein letztes Mal beschwor ich sie, die Arbeit in dem Krankenhaus aufzugeben, doch davon wollte sie nichts wissen. Auch meine Ermahnung, an ihre Gesundheit zu denken, schlug sie in den Wind. Ein Geschöpf wie sie zu enttäuschen – dieses Gesicht, das dem Gemälde eines großen Meisters entsprungen zu sein scheint –, es ist, als sei man es selbst, der sich versündigt. Und dennoch werde ich nicht aufgeben! Eine letzte Karte kann ich noch ausspielen. Sie wird es mir wahrscheinlich nie verzeihen, aber als mein Zug den Londoner Bahnhof verließ, habe ich mich entschlossen, diesem Jimmy Metcalfe einen Brief zu schreiben und ihm zu erklären, wie sehr er ihr schadet. Vielleicht ist er ja – anders als sie – bereit, Einsicht zu zeigen.
Die Sonne stand schon tief, und im Lesesaal wurde es von Minute zu Minute dunkler. Laurel brannten die Augen, nachdem sie zwei Stunden lang ohne Unterbrechung Katy Ellis’ Eintragungen gelesen hatte. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Katy Ellis’ Worte schwirrten ihr im Kopf herum. Hatte sie Jimmy den Brief tatsächlich geschrieben?, überlegte Laurel. War der Plan ihrer Mutter deswegen gescheitert? Hatte der Brief etwas enthalten, das womöglich nicht nur den Bruch zwischen Jimmy und Vivien herbeigeführt hatte, sondern auch den zwischen Jimmy und ihrer Mutter? In einem Roman, dachte Laurel, wäre dies gut denkbar. Ein klassischer tragischer Konflikt: zwei junge Liebende, die eine gemeinsame Tat planten, um ihr Glück zu besiegeln, und die damit doch nur ihr
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