Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Unglück heraufbeschworen. Hatte ihre Mutter deswegen an jenem Tag im Pflegeheim davon gesprochen, dass man nur aus Liebe heiraten dürfe, dass man die Zeit nicht mit Warten verplempern dürfe, dass nichts wichtiger sei als die Liebe? Hatte Dorothy zu lange gewartet, hatte sie zu viel begehrt und darüber ihren Geliebten an die andere Frau verloren?
Laurel hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass Dorothy, als sie ihren Plan schmiedete, mit Vivien einfach an die denkbar falscheste Person geraten war. War Vivien der Typ Frau gewesen, in die Jimmy sich geradezu verlieben musste ? Katy Ellis – ganz die Pfarrerstochter – hatte sich jedenfalls große Sorgen gemacht, dass Vivien Ehebruch begehen könnte. Aber das war nicht alles gewesen. Laurel fragte sich, ob Vivien womöglich krank gewesen war. Katys Sorge um Viviens Gesundheit war jedenfalls von der Art, die man bei einer Freundin mit einer chronischen Krankheit an den Tag legen würde und nicht bei einer lebenslustigen Frau von Anfang zwanzig. Vivien selbst hatte in ihrem Brief von Zeiten geschrieben, in denen sie »getrennt« war vom Leben, in denen ihr Mann an ihrem Bett saß und ihre Hand umfasst hielt. Hatte Vivien Jenkins an einer besonderen Krankheit gelitten? Hatte sie einen Zusammenbruch erlebt, körperlicher oder seelischer Art, der sie so geschwächt hatte, dass mit einem Rückfall zu rechnen gewesen war?
Oder – Laurel richtete sich abrupt auf – hatte sie eine Fehl geburt erlitten? Hatte sie dieses Martyrium womöglich bereits häufiger durchgemacht? Das würde auf jeden Fall Henrys hingebungsvolle Fürsorglichkeit erklären und in gewisser Weise auch Viviens Drang, ihrem Haus, dem Hort ihres Unglücks, zu entfliehen, sobald sie sich erholt hatte, und sich mehr zuzumuten, als ratsam war. Es konnte vielleicht sogar erklären, warum Katy Ellis so vehement dagegen war, dass Vivien mit den Kindern im Krankenhaus arbeitete. War es das? Hatte Katy befürchtet, dass ihre Freundin ihr Leid noch vergrößerte, indem sie sich mit Kindern umgab – die sie Tag für Tag an ihr Unglück erinnerten? Vivien hatte in ihrem Brief geschrieben, es sei nur menschlich, sich gerade das zu wünschen, was man nicht bekommen konnte. Laurel war sich sicher, dass sie eine wichtige Spur entdeckt hatte. Dass Katy bei dem Thema um den heißen Brei herumredete, war typisch für die damalige Zeit.
Laurel wünschte, es gäbe mehr Orte, an denen sie nach Antworten suchen konnte. Gerrys Zeitreisemaschine würde ihr jetzt gerade recht kommen. Leider hatte sie nichts als Katy Ellis’ Tagebücher. Sie fand ein paar weitere Einträge, aus denen sie entnehmen konnte, dass Viviens Freundschaft mit Jimmy trotz Katys Warnungen immer enger wurde. Und dann plötzlich, am 20. Mai, die Information, dass Vivien ihr in einem Brief mitgeteilt habe, sie werde Jimmy nicht mehr treffen, dass es Zeit für ihn sei, ein neues Leben zu beginnen, dass Vivien sich von ihm verabschiedet und ihm Glück gewünscht habe.
Laurel holte tief Luft. Hatte Katy also Jimmy geschrieben? Und war der Brief die Ursache für diese plötzliche Wendung? Wider Erwarten empfand Laurel Mitleid mit Vivien Jenkins: Obwohl Laurel wusste, dass Jimmy mehr als Freundschaft für sie empfunden hatte, tat ihr die junge Frau leid, die so tapfer Verzicht leistete. Wahrscheinlich war ihr Mitgefühl davon beeinflusst, dass sie wusste, welches Schicksal Vivien erwartete. Selbst Katy, die diesen Schritt eigentlich hätte begrüßen müssen, schien jetzt, wo es so weit war, hin-und hergerissen.
Ich hatte mir Sorgen um Vivien gemacht und mir gewünscht, dass die Sache mit dem jungen Mann ein Ende nähme, aber jetzt bedrückt es mich zu erfahren, dass mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Ich habe einen Brief erhalten, der kaum Einzelheiten enthält, aber in einem Ton verfasst ist, der nicht schwer zu deuten ist. Sie wirkt resigniert. Sie schreibt nur, dass ich recht hatte; dass die Freundschaft beendet sei und ich mir keine Sorgen zu machen brauche, weil alles gut gegangen sei. Verzweiflung oder Wut könnte ich akzeptieren. Aber der resignierte Ton des Briefs macht mir Sorgen. Er verheißt nichts Gutes. Ich werde ihren nächsten Brief abwarten, und ich werde an meiner Gewissheit festhalten, dass ich das, was ich getan habe, aus gutem Grund getan habe.
Aber es gab keinen nächsten Brief. Drei Tage später starb Vivien Jenkins, wie Katy Ellis, von Trauer überwältigt, notierte.
Eine halbe Stunde später überquerte Laurel in der
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