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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Abenddämmerung den Rasen des New College auf dem Weg zur Bushaltestelle, in Gedanken ganz bei Katy Ellis und ihrem Tagebuch, als das Handy in ihrer Jackentasche summte. Die Nummer auf dem Display war ihr unbekannt, aber sie nahm das Gespräch an.
    »Lol?«
    »Gerry?« Am anderen Ende der Leitung war es so laut, dass Laurel sich anstrengen musste, ihren Bruder zu verstehen. »Gerry? Wo bist du?«
    »In London. In einer Telefonzelle auf der Fleet Street.«
    »Es gibt noch Telefonzellen in der Stadt?«
    »Offenbar. Es sei denn, das hier ist eine von den Notrufzellen der Polizei, dann bekomme ich gleich ernsthaft Ärger.«
    »Was machst du denn in London?«
    »Dr. Rufus jagen.«
    »Ach?« Laurel hielt sich das andere Ohr zu, um ihn besser zu verstehen. »Und? Hast du ihn?«
    »Ja. Zumindest seine Tagebücher. Der gute Doc ist gegen Ende des Krieges an einer Infektion gestorben.«
    Laurels Herz pochte. Sie überging den frühen Tod des Arztes. Die Suche nach der Lösung des Rätsels ließ nur begrenzt Raum für Mitgefühl. »Und? Was hast du rausgefunden?«
    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
    »Bei dem, was wichtig ist. Bitte, spann mich nicht auf die Folter.«
    »Moment.« Sie hörte, wie er eine weitere Münze einwarf. »Bist du noch dran?«
    »Ja, ja.«
    Laurel blieb unter einer Straßenlaterne stehen. »Sie waren nie miteinander befreundet, Lol«, sagte Gerry. »Also, Ma und diese Vivien Jenkins – zumindest nach Meinung von Dr. Rufus.«
    »Wie bitte?« Sie glaubte, sie hätte ihn nicht richtig verstanden.
    »Sie kannten sich kaum.«
    »Ma und Vivien Jenkins? Wovon redest du? Ich habe das Buch selbst gesehen, das Foto – natürlich waren sie Freundinnen.«
    »Ma wollte Viviens Freundin sein – nach allem, was ich gelesen habe, kommt es mir fast so vor, als wäre sie am liebsten in Vivien Jenkins’ Haut geschlüpft. Sie hatte die fixe Idee, sie und Vivien wären unzertrennlich – ›ein Herz und eine Seele‹, wie der Doc sich ausdrückt, aber es hat sich alles nur in ihrem Kopf abgespielt.«
    »Aber … ich verstehe nicht …«
    »Und dann ist irgendwas passiert. Aus dem Tagebuch geht nicht hervor, was genau. Aber Vivien Jenkins hat irgendwas getan, was Ma klargemacht hat, dass sie nicht ihre Freundin war.«
    Laurel dachte an den Streit, von dem Kitty Barker erzählt hatte, von etwas, was zwischen den beiden vorgefallen war, was zur Folge gehabt hatte, dass Dorothy wochenlang Trübsal ge blasen und Rachepläne geschmiedet hatte. »Was war es, Gerry?«, sagte sie. »Hast du eine Ahnung, was Vivien getan hat?« Oder Dorothy weggenommen hat.
    »Sie … Moment. Mist, ich hab keine Münzen mehr.« Sie hörte, wie er den Hörer ablegte. Ganz offensichtlich durchwühlte er seine Taschen. »Die Leitung wird gleich unterbrochen, Lol …«
    »Ruf noch mal an. Besorg dir eine Handvoll Münzen und ruf noch mal an.«
    »Zu spät, ich muss los. Aber ich erzähl dir bald alles, Lol. Ich komme nach Green…«
    Dann ertönte das Freizeichen.

27
    London, Mai 1941
    B eim ersten Mal, als Jimmy Vivien mit nach Hause ge bracht hatte, damit sie seinen Vater kennenlernte, war er sehr verlegen gewesen. Er selbst fand die kleine Wohnung schon reichlich bescheiden, aber mit Viviens Augen gesehen, mussten die halbherzigen Versuche, die er unternommen hatte, um es wenigstens ein bisschen gemütlich zu machen, geradezu grotesk wirken. Hatte er wirklich angenommen, das alte Geschirrtuch, das er über die Kommode gelegt hatte, würde sie in einen Esstisch verwandeln? Offenbar. Doch Vivien gelang es auf bewundernswerte Weise, so zu tun, als wäre überhaupt nichts dabei, schwarzen Tee aus Tassen zu trinken, die nicht zueinander passten, und dabei neben einem Vogelkäfig auf dem Bett eines alten Mannes zu sitzen. Und trotz aller Widrigkeiten war der Nachmittag sehr gesellig gewesen.
    Eine dieser Widrigkeiten hatte darin bestanden, dass sein Vater Vivien die ganze Zeit »deine junge Dame« genannt und obendrein Jimmy gefragt hatte – und zwar laut und deutlich –, wann sie denn zu heiraten gedächten. Jimmy hatte seinen Vater mindestens dreimal korrigiert, schließlich hatte er Vivien be dauernd angeschaut und die Schultern gezuckt. Was hätte er auch tun sollen? Sein Vater war halt ein bisschen durcheinander – Dolly war er erst einmal begegnet, und das war vor dem Krieg gewesen, in Coventry –, und es tat ja niemandem weh. Vivien schien sich nichts daraus zu machen, und sein Vater war glücklich. Überglücklich. Er war ganz

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