Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Kinder gelernt hatten.
Vielleicht war ich auch nach meiner Krankheit leichtsinniger als gewöhnlich. Nach einer Woche im abgedunkelten Schlafzimmer, während deutsche Flugzeuge über uns hinwegdröhnten und Henry jeden Abend an meinem Bett saß, meine Hand umklammert hielt und mir zusprach, ich möge gesund werden, war es eine Befreiung, wieder draußen zu sein und die frische Londoner Frühlingsluft einzuatmen. (Nebenbei bemerkt: Finden Sie es nicht befremdlich, Katy, dass die ganze Welt sich diesem Wahnsinn hingibt, den wir Krieg nennen, während die Blumen, die Bäume, die Bienen wie jedes Jahr den Frühling feiern – wie eine Mahnung an die Menschheit, zur Vernunft zu kommen und sich an die Schönheit des Lebens zu erinnern? Es ist seltsam, aber ich sehne mich umso mehr nach dem Leben, je mehr ich davon getrennt bin. Es ist seltsam, meinen Sie nicht auch, dass Verzweiflung in Lebensdurst umschlagen kann und dass man selbst in diesen düsteren Zeiten das Glück in den kleinen Dingen finden kann.)
Aber zurück zum Thema. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, er bat darum, mich begleiten zu dürfen, und ich sagte Ja, und so machten wir uns gemeinsam auf den Weg, und ich musste ständig lachen. Ich lachte, weil er mir lustige Geschichten erzählte und weil es so einfach und so leicht war. Mir wurde bewusst, wie lange es her war, dass ich dieses so simple Vergnügen genossen hatte: ein unbekümmertes Gespräch an einem sonnigen Nachmittag. Ich sehne mich nach solcher Art Vergnügen, Katy. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, ich bin eine erwachsene Frau, und ich wünsche mir Dinge, die ich nicht haben kann. Aber ist es nicht menschlich, sich nach Dingen zu sehnen, die einem verwehrt sind?
Was für Dinge? Welche Dinge waren Vivien verwehrt? Nicht zum ersten Mal hatte Laurel das Gefühl, dass ihr ein wichtiges Puzzleteil fehlte. Sie überflog die Tagebucheinträge der nächsten zwei Wochen, bis Vivien wieder auftauchte, und las weiter, in der Hoffnung, eine Erklärung zu finden.
Sie sehen sich weiterhin – im Krankenhaus, was schlimm genug ist, aber auch an anderen Orten, wenn sie angeblich in der Kantine arbeitet oder Besorgungen macht. Sie sagt mir, ich solle mir keine Sorgen machen, er sei »ein Freund, mehr nicht«. Zum Beweis erzählt sie mir von der Verlobten des jungen Mannes: »Er ist verlobt, Katy, die beiden lieben sich und wollen aufs Land ziehen, wenn der Krieg vorbei ist. Sie wollen ein großes, altes Haus kaufen und viele Kinder bekommen. Sie sehen also, ich bin nicht in Gefahr, mein Ehegelübde zu brechen, was Sie zu befürchten scheinen.«
Laurel begriff sofort. Vivien meinte Dorothy – ihre Mutter. Der Moment, in dem sich plötzlich das Damals und das Jetzt, überlieferte Geschichte und eigenes Erleben überschnitten, war so überwältigend, dass es ihr fast den Atem raubte. Sie nahm die Brille ab, rieb sich die Stirn und konzentrierte sich einen Moment lang auf die Wand draußen vor dem Fenster.
Und dann ließ sie Katy fortfahren:
Sie weiß, dass das nicht alles ist. Sie will mich missverstehen! Ich bin auch nicht von gestern. Ich weiß, dass die Verlobung des jungen Mannes das menschliche Herz nicht aufhalten kann. Ich kenne seine Gefühle nicht, aber Viviens Gefühle sind mir nur zu vertraut.
Katy ließ sich mal wieder über ihre Sorgen aus, aber das führte leider nicht dazu, dass Laurel verstand, warum sie sich solche Sorgen machte. Vivien hatte angedeutet, dass Katy viel zu rigide Ansichten vertrat, was das geziemende Verhalten einer Ehefrau anging. Konnte es sein, dass Vivien ihrem Mann regelmäßig untreu war? Laurel hatte nicht viel in der Hand, aber ließ sich nicht aus Viviens romantischen Gedankenspielen über das Leben eine Neigung zur freien Liebe herauslesen? Vielleicht.
Doch aufgrund eines Eintrags zwei Tage später fragte sich Laurel, ob Katy von Anfang an geahnt hatte, dass Jimmy eine Gefahr für Vivien darstellte:
Schreckliche Kriegsnachrichten – letzte Nacht wurde Westminster Hall getroffen, auch die Abbey und die Parlamentsgebäude. Anfangs hieß es sogar, Big Ben sei zerstört worden! Aber anstatt die Zeitung zu lesen oder mir die weiteren Nachrichten im Radio anzuhören, habe ich mich entschlossen, den Wohnzimmerschrank auszuräumen, um Platz zu schaffen für mein Unterrichtsmaterial. Ich muss gestehen, dass ich einen Hang zum Hamstern und Horten habe – ein Charakterzug, der mich beschämt; ich wünschte, in meinem Haushalt herrschte eine genauso effiziente
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