Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
erreichten den U-Bahnhof und verabschiedeten sich ein wenig betreten. Jimmy hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich würde beeilen müssen, um rechtzeitig zu seiner Verabredung mit Dolly zu kommen, die im Lyons auf ihn wartete. Trotzdem …
»Ich begleite Sie nach Kensington«, rief er Vivien kurz entschlossen nach. »Damit Sie sicher nach Hause kommen.«
Sie drehte sich um. »Wollen Sie von der Bombe getroffen werden, die für mich bestimmt ist?«
»Ich würde mein Bestes tun.«
»Nein«, sagte sie. »Vielen Dank, aber ich fahre lieber allein.« Mit einem Mal war die alte Vivien wieder da, die vor ihm her die Straße hinuntergeeilt war und ihm noch nicht einmal ein Lächeln geschenkt hatte.
Dolly saß am Fenster des Restaurants und rauchte, während sie nach Jimmy Ausschau hielt. Hin und wieder wandte sie sich vom Fenster ab und strich über den weißen Pelz ihres Mantels. Eigentlich war es zu warm, um Pelz zu tragen, aber Dolly wollte ihn nicht ablegen. Der Mantel verlieh ihr Ansehen, ja sogar Macht, und beides brauchte sie jetzt mehr denn je. In letzter Zeit hatte sie das ungute Gefühl, dass ihr die Fäden aus den Händen glitten und sie dabei war, die Kontrolle zu verlieren. Die Angst machte sie ganz krank. Am schlimmsten war es nachts.
Der Plan war ihr absolut perfekt erschienen, als sie ihn sich ausgedacht hatte – eine simple Methode, Vivien Jenkins eine Lehre zu erteilen und gleichzeitig ihre gemeinsame Zukunft mit Jimmy zu sichern –, aber die Zeit verging, und Jimmy hatte noch immer keine Möglichkeit gefunden, ein Treffen mit ihr zu arrangieren, die Distanz zwischen ihr und Jimmy schien immer größer zu werden, immer häufiger kam es vor, dass er ihr nicht in die Augen sehen konnte, und allmählich dämmerte ihr, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte, dass sie Jimmy nie hätte bitten dürfen, sich darauf einzulassen. In ihren schlimmsten Momenten fragte Dolly sich mittlerweile sogar, ob er sie immer noch so liebte wie zu Anfang, ob er immer noch fand, dass sie etwas ganz Besonderes war. Und dieser Gedanke machte ihr schreckliche Angst.
Vor ein paar Tagen hatten sie sich fürchterlich gestritten. Es hatte mit einer Lappalie angefangen, irgendeine dahingesagte Bemerkung, die sie über ihre Freundin Caitlin gemacht hatte, wie sie sich aufführte, wenn sie mit Kitty und den anderen tanzen gingen. Solche und ähnliche Bemerkungen hatte sie schon hundertmal gemacht, aber diesmal hatte es zu einem handfesten Streit geführt. Es hatte sie schockiert, wie heftig er sie angefahren hatte, was er gesagt hatte – sie solle sich bessere Freundinnen suchen, wenn ihre alten sie so enttäuschten, sie solle nächstes Mal lieber ihn und seinen Vater besuchen, anstatt mit Leuten auszugehen, die sie offenbar nicht einmal mochte … Sie hatte es so ungerecht gefunden, so gemein, dass sie angefangen hatte zu weinen. Mitten auf der Straße. Wenn Dolly weinte, merkte Jimmy normalerweise, wie sehr er sie verletzt hatte, und bemühte sich, es wiedergutzumachen, aber diesmal nicht. Er hatte nur geschrien: »Herrgott!«, und war mit geballten Fäusten davongestampft.
Dolly hatte ihr Schluchzen unterdrückt und eine Weile in der Dunkelheit gestanden und gewartet und gelauscht, aber nichts gehört. Sie hatte schon gefürchtet, sie hätte es diesmal zu weit getrieben und er hätte sie tatsächlich verlassen.
Er war zurückgekommen. Aber anstatt sich wie erwartet zu entschuldigen, hatte er mit einer Stimme, die sie fast nicht erkannt hatte, gesagt: »Du hättest mich heiraten sollen, Doll. Du hättest mich verdammt noch mal heiraten sollen, als ich dir einen Antrag gemacht habe.«
Dolly hatte gespürt, wie ein Wimmern in ihr aufstieg, als er das sagte, und dann hatte sie sich ausrufen hören: »Nein, Jimmy. Du hättest mir viel früher einen Antrag machen sollen!«
Später, vor der Tür von Mrs. Whites Pension, hatten sie sich wieder versöhnt. Sie hatten einander einen Gutenachtkuss gegeben, vorsichtig, höflich, und sich darauf geeinigt, dass sie beide überreagiert hatten, das war alles. Aber Dolly wusste, dass es mehr gewesen war als das. Sie hatte am Abend noch stundenlang wach gelegen und über die vergangenen Wochen nachgedacht, hatte jedes Treffen Revue passieren lassen, alles, was er gesagt hatte, wie er sich benommen hatte, und dann war es ihr irgendwann wie Schuppen von den Augen gefallen. Es war der Plan, das, was sie von ihm verlangt hatte. Anstatt ihre Zukunft zu sichern, wie sie gehofft hatte,
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