Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
lächelnd zu Vivien gesagt, und schließlich hatte sie widerwillig genickt …
Der Applaus ebbte endlich ab, und Dr. Tomalin erklärte den Kindern, Jimmy habe ihnen etwas mitgebracht, worauf erneuter Jubel ausbrach. Jimmy winkte ihnen zu, dann begann er, Abzüge eines Fotos zu verteilen. Er hatte es aufgenommen, als Vivien krank gewesen war: Es zeigte die gesamte Schauspieltruppe in vollem Kostüm auf dem Bühnenschiff.
Auch für Vivien hatte er einen Abzug gemacht. Er entdeckte sie in einer der hinteren Ecken des Raums, wo sie Kostüme einsammelte und in einen Korb stopfte. Dr. Tomalin und Myra unterhielten sich gerade mit Dolly, und er nutzte die Gelegenheit, um Vivien das Foto zu bringen.
»So«, sagte er, als er zu ihr trat.
»So.«
»Morgen werden glänzende Kritiken in den Zeitungen stehen.«
Sie lachte. »Ganz bestimmt.«
Er gab ihr das Foto. »Für Sie.«
Lächelnd betrachtete sie die Gesichter der Kinder. Als sie sich bückte, um den Korb abzustellen, sprang ihre Bluse ein bisschen auf, und Jimmy sah, dass sie blaue Flecken hatte, die von der Schulter bis zum Brustbein reichten.
»Das ist nichts«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte, und beeilte sich, ihre Bluse wieder zurechtzurücken. »Ich bin in der Dunkelheit gestolpert, als wir in den Luftschutzraum gelaufen sind. Ein Briefkasten ist mir in den Weg geraten …«
»Sind Sie sicher, dass das nichts ist? Sieht ziemlich übel aus.«
»Ich bekomme leicht blaue Flecken.« Ihre Blicke begegneten sich, und ganz kurz meinte Jimmy, etwas in ihren Augen aufflackern zu sehen, doch dann lächelte sie. »Ganz zu schweigen davon, dass ich immer zu schnell renne. Ich stoße dauernd mit irgendetwas zusammen – manchmal sogar mit Leuten.«
Jimmy erwiderte ihr Lächeln, als er sich an den Tag erinnerte, an dem sie sich kennengelernt hatten. Aber als eins der Kinder kam und Vivien an der Hand wegzog, musste er daran denken, dass sie immer wieder krank wurde und keine Kinder bekommen konnte, und er dachte an das, was er über Leute wusste, die leicht blaue Flecken bekamen, und etwas in seinem Magen ballte sich zusammen.
28
V ivien setzte sich auf die Bettkante und nahm das Foto in die Hand, das Jimmy ihr geschenkt hatte, auf dem nach einem Bombenangriff Rauch und glitzernde Glassplitter zu sehen waren und im Hintergrund, durch den Rauch hindurch, eine Familie. Sie lächelte, als sie es betrachtete, dann legte sie sich zurück, schloss die Augen und wartete darauf, dass ihre Gedanken in ihr Schattenland wanderten. Wartete darauf, dass der Schleier auftauchte, die funkelnden Lichter in der Tiefe des Tunnels und dahinter ihre Familie, die im Haus auf sie wartete.
Sie lag da und wartete, versuchte, sie zu sehen. Gab sich alle Mühe.
Es hatte keinen Zweck. Sie öffnete die Augen. Das Einzige, was sie sah, wenn sie in letzter Zeit die Augen schloss, war Jimmy Metcalfe. Das dunkle Haar, das ihm in die Stirn fiel, das Zucken seiner Mundwinkel, wenn er drauf und dran war, etwas Lustiges zu sagen, seine zusammengezogenen Brauen, wenn er von seinem Vater sprach …
Mit einem Ruck stand sie auf und trat ans Fenster. Das Foto ließ sie auf dem Bett liegen. Eine Woche war seit der Aufführung vergangen, und Vivien fand keine Ruhe. Ihr fehlten die Proben mit Jimmy und den Kindern, und die Tage, die sie entweder in der Kantine oder in ihrem stillen Haus verbrachte, wurden ihr zur Qual. Das Haus war wirklich entsetzlich still. Hier sollten eigentlich Kinder herumtoben, das Treppengeländer hinunterrutschen, auf dem Speicher herumtollen. Selbst Sarah, das Dienstmädchen, war nicht mehr da – Henry hatte auf ihrer Entlassung bestanden nach dem, was vorgefallen war, aber Vivien hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie geblieben wäre. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich an das Rumpeln des elektrischen Staubsaugers gewöhnt hatte, an das Knarzen der alten Bodendielen, an das Gefühl, dass sich außer ihr noch andere Menschen im Haus befanden.
Auf der Straße unter ihr fuhr ein Mann auf einem alten Fahrrad vorbei, im Korb an der Lenkstange lauter Gartengeräte. Vivien ließ die Gardine vor das mit Klebestreifen gesicherte Fenster fallen. Sie setzte sich auf die Kante ihres Sessels und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Seit Tagen schrieb sie immer wieder in Gedanken Briefe an Katy. Seit ihre Freundin sie kürzlich in London besucht hatte, war zwischen ihnen eine gewisse Distanz entstanden, und sie würde so gern alles wieder in Ordnung bringen. Nichts
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