Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
vor lauter Aufregung früher als gewöhnlich aufgewacht war, in ihrem Bett saß, das Buch, das sie aus dem Restaurant mitgenommen hatte, aufgeschlagen auf den Knien, und sorgfältig ihren Namen – Dorothy – über die Widmung schrieb. Wie lieb von Vivien, ihr das Buch zu schenken. Der Ge danke, dass sie diese Frau so falsch eingeschätzt hatte, machte sie traurig, ganz besonders, als das Foto, das Jimmy von ihnen beiden aufgenommen hatte, aus dem Buch herausfiel. Sie war froh, dass sie jetzt Freundinnen waren.
Die Bombe zerstörte das Restaurant und fast das gesamte Nebenhaus. Es gab Tote, aber nicht so viele, wie man bei einer solch heftigen Detonation hätte erwarten können. Die Rettungsmannschaft von Wache 39 war schnell zur Stelle und durchsuchte die Ruinen nach Überlebenden. Eine freundliche Sanitäterin namens Sue, deren Mann, Don, traumatisiert aus Dünkirchen zurückgekehrt war und deren einziger Sohn an einen Ort in Wales evakuiert worden war, dessen Namen sie nicht aussprechen konn te, entdeckte kurz vor dem Ende ihrer Schicht etwas Weißes in den Trümmern.
Sie rieb sich die Augen und gähnte, überlegte, ob sie es einfach liegen lassen sollte, bückte sich dann jedoch, um es aufzuheben. Es war ein Brief, adressiert und mit Briefmarke versehen, aber noch nicht abgeschickt. Natürlich las sie den Brief nicht, aber der Umschlag war nicht zugeklebt, und ein Foto fiel heraus. Im Licht der herrlichen Morgendämmerung, die das stolze, rauchende London erhellte, erkannte sie, dass das Foto einen Mann und eine Frau zeigte – zwei Verliebte, das sah man sofort. Wie der Mann die hübsche junge Frau anschaute. Er lächelte nicht wie sie, aber alles an seinem Gesichtsausdruck sagte Sue, dass der Mann die Frau von ganzem Herzen liebte.
Sie lächelte vor sich hin, ein bisschen traurig bei der Erinnerung daran, wie sie und Don einander früher angelächelt hatten, dann klebte sie den Umschlag zu und steckte ihn in ihre Manteltasche. Sie stieg zu ihrer Kollegin Vera in den braunen Daimler, und gemeinsam fuhren sie zur Wache zurück. Sue lebte nach der Devise, dass man nie in seinem Eifer, anderen zu helfen, nachlassen dürfe, und den Liebesbrief auf seine Reise zu schicken würde für heute ihre gute Tat sein. Auf dem Heimweg warf sie den Brief in den Briefkasten, und bis ans Ende ihres langen, glücklichen Lebens dachte sie gelegentlich an die beiden Verliebten und hoffte, dass für sie alles gut ausgegangen war.
29
Greenacres, 2011
E s war ein herrlicher Altweibersommertag, über den Feldern lag ein goldener Hitzeschleier. Nachdem Laurel den ganzen Vormittag bei ihrer Mutter gesessen hatte, während der Standventilator auf der Kommode vor sich hinsurrte, übergab sie schließlich an Rose, ließ die beiden allein und ging nach draußen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, einen Spaziergang zum Bach hinunter zu machen, um sich ein bisschen die Beine zu vertreten, doch dann fiel ihr Blick auf das Baumhaus, und einer spontanen Eingebung folgend kletterte sie hoch. Zum ersten Mal seit fünfzig Jahren.
Du liebe Zeit, die Tür war viel niedriger, als sie sie in Erinnerung hatte. Nachdem sie sich etwas unbeholfen durch die Öffnung gezwängt hatte, setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden und sah sich um. Sie lächelte, als sie sah, dass Daphnes Spiegel noch genauso wie damals auf dem Querbalken lag. Die Quecksilberschicht war mit den Jahren rissig geworden, und als Laurel sich in dem Spiegel betrachtete, sah ihr Gesicht ganz scheckig aus, wie unter Wasser. Es war ein merkwürdiges Gefühl, hier an diesem Ort voller Kindheitserinnerungen zu sitzen und ihr erwachsenes, faltiges Gesicht zu sehen. Wie Alice, die in das Kaninchenloch gefallen war – oder wie Alice, die fünfzig Jahre später noch einmal in das Kaninchenloch fällt und feststellen muss, dass sich bis auf sie selbst nichts verändert hat.
Laurel legte den Spiegel weg und schaute aus dem Fenster, so wie sie es an jenem Tag getan hatte. Ihr war beinahe, als könnte sie Barnaby bellen hören, die Henne mit nur einem Flügel im Kreis rennen sehen, die Sommerhitze spüren, die von den Steinen des Wegs aufstieg. Sie war fast davon überzeugt, dass sie, wenn sie in Richtung Haus schaute, Iris’ Hula-Hoop-Reifen sehen würde, der an den Gartenzaun gelehnt dastand und sich hin und wieder leicht im Wind bewegte. Deswegen schaute sie lieber nicht hin. Manchmal war der Abstand der vielen Jahre ein einziger körperlicher Schmerz. Laurel wandte sich vom Fenster
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