Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
geweckt, weil er zum Thema Narzissmus geforscht hat …«
»Narzissmus?«
»… und insbesondere zur Rolle der Fantasie als Schutzmechanismus. Ihm war aufgefallen, dass so manches, was Ma als junges Mädchen erzählte und tat, mit bestimmten Verhaltensweisen übereinstimmte, die er erforschte. Nichts Extremes, nur eine ausgeprägte Ichbezogenheit, ein großes Bedürfnis nach Bewunderung, die Tendenz, sich selbst als etwas Besonderes zu betrachten, Träume von Erfolg und Berühmtheit …«
»So sind doch alle Teenager.«
»Genau, die Übergänge sind hier fließend. Die Formen des Narzissmus sind ebenso vielfältig wie weitverbreitet. Manche Menschen bauen diese Formen aus und werden dafür sogar von der Gesellschaft belohnt.«
»Was für Menschen?«
»Was weiß ich – Schauspieler zum Beispiel.« Er grinste sie an. »Aber im Ernst, anders als bei dem Gemälde von Caravaggio geht es nicht darum, dass man den ganzen Tag vor dem Spiegel hockt.«
»Das will ich meinen. Wenn das so wäre, hätte Daphne ziemliche Probleme.«
»Aber Leute mit einer narzisstischen Persönlichkeit sind tatsächlich anfällig für obsessive Ideen und Fantasien.«
»Sie bilden sich zum Beispiel Freundschaften mit Leuten ein, die sie eigentlich nur bewundern?«
»Ja, genau. Meistens ist es nur ein harmloser Tagtraum, der wieder vergeht, ohne dass das Objekt der Bewunderung je etwas davon erfährt. Aber in manchen Fällen, wenn zum Beispiel unser Narziss mit der Tatsache konfrontiert wird, dass die eingebildete Freundschaft gar nicht wirklich existiert – also, wenn etwas passiert, was den Spiegel zerbricht, sozusagen – na ja, sagen wir so, dass derjenige sich dann zutiefst abgelehnt fühlt.«
»Und auf Rache sinnt?«
»Ich würde sagen, ja. Obwohl die Person es wahrscheinlich nicht als Rache, sondern als gerechte Strafe betrachten würde.«
Laurel zündete sich eine Zigarette an.
»Rufus’ Aufzeichnungen sind nicht sehr detailliert, aber es sieht so aus, als ob Ma 1941, als sie neunzehn war, zwei Hirngespinste hatte: Das erste bezog sich auf ihre Arbeitgeberin – sie war davon überzeugt, dass die alte Dame sie als eine Art Ersatztochter betrachtete und ihr einen Großteil ihres Vermögens vererben wollte …«
»Was sie nicht getan hat?«
Gerry legte den Kopf schief und wartete geduldig, bis Laurel ihre Frage selbst beantwortete: »Natürlich nicht. Erzähl weiter.«
»Das zweite war ihre eingebildete Freundschaft mit Vivien. Die beiden kannten sich zwar, aber sie standen sich lange nicht so nahe, wie Ma glaubte.«
»Und dann ist etwas passiert, was diese Hirngespinste zerstört hat?«
Gerry nickte. »Ich konnte nichts Genaues in Erfahrung brin gen, aber Rufus schreibt, Ma hätte sich von Vivien Jenkins ›herabgesetzt‹ gefühlt. Die Umstände waren ihm nicht genau bekannt, aber soweit ich das verstanden habe, hat Vivien glattweg behauptet, sie würde Ma nicht kennen. Ma fühlte sich verletzt und beschämt, sie war offenbar richtig wütend. Rufus dachte sich zunächst nichts dabei, bis er ungefähr einen Monat später erfahren hat, dass sie irgendeinen Plan hatte, um ›die Dinge zurechtzurücken‹.«
»Das hat Ma ihm erzählt?«
»Nein, das glaube ich nicht …« Gerry überflog seine Notizen. »Er lässt sich nicht näher darüber aus, woher er die Information hat, aber ich habe den Eindruck – so wie er sich ausdrückt –, dass er es nicht von Ma selbst wusste.«
Laurel runzelte die Stirn und überlegte. Die Worte »die Dinge zurechtrücken« ließen sie an ihren Besuch bei Kitty Barker denken, vor allem daran, was die alte Frau über den Abend berichtet hatte, an dem sie und Dorothy tanzen gegangen waren. Dollys Ausgelassenheit, der »Plan«, von dem sie geredet hatte, die junge Frau, die sie im Schlepptau gehabt hatte – eine Freundin, mit der sie in Coventry zusammen aufgewachsen war. Laurel rauchte nachdenklich. Das musste Dr. Rufus’ Toch ter gewesen sein, die später ihrem Vater brühwarm erzählt hatte, was sie von Dorothy erfahren hatte.
Plötzlich hatte Laurel großes Mitleid mit ihrer Mutter – von einer Freundin verleugnet, von der anderen verraten. Sie konnte sich gut an die Intensität ihrer Tagträume als Teenager erinnern. Es war eine große Erleichterung gewesen, als sie Schauspielerin geworden war und ihre Fantasien künstlerisch verarbeiten konnte. Aber Dorothy hatte diese Möglichkeit nicht gehabt …
»Und was ist dann passiert?«, fragte sie ihren Bruder. »Ma hat ihre Tagträume
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