Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
waren warme, liebevolle Hände. »Ich glaube, Sie sind ein guter Mann, Jimmy, einer der besten, und ich möchte, dass Sie glücklich sind.«
»Das klingt wie ein Abschied.«
»Wirklich?«
Er nickte.
»Tja, das sehen Sie richtig.« Sie trat näher, und nach kurzem Zögern küsste sie ihn, einfach so, mitten auf der Straße. Sie küsste ihn sanft, leicht, abschließend, dann packte sie ihn am Hemd, drückte die Stirn an seine Brust und prägte sich diesen wunderbaren Augenblick in allen Einzelheiten ein. »Leben Sie wohl, Jimmy Metcalfe«, sagte sie schließlich. »Und diesmal … diesmal werden wir uns wirklich nie wiedersehen.«
Jimmy saß noch lange im U-Bahnhof und betrachtete den Scheck. Er fühlte sich verraten, er war wütend auf sie, auch wenn er ihr damit unrecht tat. Aber – warum in aller Welt hatte sie ihm diesen Scheck gegeben? Und warum jetzt, nachdem Dollys Plan vergessen war und sie richtige Freunde geworden waren? Hatte es etwas mit ihrer mysteriösen Krankheit zu tun? In ihren Worten hatte eine Endgültigkeit gelegen, die ihm Angst machte.
Tag für Tag, während er den Fragen seines Vaters auswich, der wissen wollte, wann seine hübsche Freundin denn wiederkäme, betrachtete Jimmy den Scheck und fragte sich, was er damit tun sollte. Am liebsten hätte er das verdammte Ding in kleine Stücke zerrissen, aber er tat es nicht. Er war ja nicht dumm. Der Scheck war zugleich ein Geschenk des Himmels, auch wenn er ihn mit Scham und Unbehagen erfüllte und mit einer seltsamen, unerklärlichen Traurigkeit.
An dem Nachmittag, an dem er im Lyons mit Dolly zum Tee verabredet war, überlegte er, ob er den Scheck mitnehmen sollte. Mehrmals nahm er ihn aus dem Buch und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke, schob ihn dann doch wieder in das Buch zurück und versteckte das verflixte Ding. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er war spät dran. Dolly würde schon auf ihn warten. Sie hatte ihn in der Redaktion angerufen und gesagt, sie müsse ihm etwas Wichtiges zeigen. Sie würde ungeduldig dasitzen und auf die Tür starren, und er würde überhaupt keine Chance bekommen, ihr zu erklären, dass er etwas überaus Wertvolles verloren hatte.
Mit einem Gefühl düsterer Vorahnung steckte Jimmy schließ lich das Buch ein und machte sich auf, um sich mit seiner Verlobten zu treffen.
Dolly saß an demselben Platz, an dem sie gesessen hatte, als sie ihm ihren Plan unterbreitet hatte. Er sah sie sofort, denn sie trug schon wieder diesen abscheulichen weißen Pelzmantel. Es war inzwischen viel zu warm dafür, aber Dolly konnte sich nicht von dem Ding trennen. Für Jimmy war der Mantel längst zum Symbol dieser ganzen widerlichen Intrige geworden, und allein bei seinem Anblick wurde ihm beinahe übel.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin, Doll, aber ich …«
»Jimmy.« Ihre Augen leuchteten. »Ich hab’s getan!«
»Was hast du getan?«
»Hier.« Sie hielt mit beiden Händen einen Umschlag hoch, dann zog sie ein Foto daraus hervor. »Ich habe es sogar entwickeln lassen.« Sie schob das Foto über den Tisch.
Jimmy nahm es in die Hand, und unwillkürlich überkam ihn ein warmes Gefühl. Es war am Tag der Theateraufführung im Krankenhaus aufgenommen worden. Vivien war deutlich zu erkennen, und auch Jimmy, der dicht neben ihr stand und mit einer Hand ihren Arm berührte. Sie schauten einander an, er erinnerte sich noch genau an den Moment, es war, als er die blauen Flecke entdeckt … Und dann dämmerte ihm, was er da vor sich hatte. »Doll …«
»Es ist perfekt, oder?« Sie strahlte ihn voller Stolz an, als hätte sie ihm einen Riesengefallen getan, als erwartete sie, dass er sich bei ihr bedankte.
Lauter als beabsichtigt sagte er: »Aber wir hatten uns doch entschlossen, es nicht zu tun. Du hast gesagt, es war ein Fehler, dass du das nie von mir hättest verlangen dürfen.«
»Von dir hätte ich es nicht verlangen dürfen, Jimmy.«
Jimmy betrachtete noch einmal das Foto, dann schaute er Dolly an. Jetzt erst begriff er wirklich. Sie hatte nicht gelogen. Er hatte sie bloß missverstanden. Sie hatte sich überhaupt nicht für die Kinder interessiert und auch nicht vorgehabt, sich mit Vivien zu versöhnen. Für sie war es nur eine perfekte Gelegenheit gewesen, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
»Ich hätte einfach …« Ihr Lächeln verschwand. »Warum siehst du mich denn so an? Ich dachte, du würdest dich freuen. Du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt, oder? Ich habe den Brief wirklich sehr
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