Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
es nicht sein, dass du da irgendwas falsch verstanden hast? Ich meine …« Sie hielt das Foto von den beiden jungen Frauen hoch, die Arm in Arm in die Kamera lächelten. »… wie erklärst du dir das hier?«
Er nahm ihr das Foto ab. »Ich würde sagen, das sind zwei ziemlich junge Frauen. Die Qualität der Filme hat sich seitdem enorm verbessert. Nichtsdestoweniger wirken Schwarz-Weiß-Fotos nachweislich viel stimmungsvoller als Farb…«
»Gerry«, sagte Laurel gereizt.
»Also«, er gab ihr das Foto zurück, »ich würde sagen, dieses Foto zeigt unsere Mutter, die sich vor siebzig Jahren bei einer anderen Frau untergehakt und in die Kamera gelächelt hat.«
Verdammte, trockene Wissenschaftlerlogik. Laurel verzog das Gesicht. »Und was sagst du dazu?« Sie schlug das alte Peter-Pan -Buch vorne auf. »Hier steht eine Widmung«, sagte sie und zeigte auf die handschriftlichen Zeilen. »Sieh sie dir an.«
Gerry legte seine Zettelsammlung ab und nahm das Buch entgegen. Er las die Widmung. »›Für Dorothy. Wahre Freundschaft ist ein Licht im Dunkel – Vivien.‹«
Es war albern, das wusste Laurel, aber sie genoss ihr Triumphgefühl. »Das ist schon schwerer zu widerlegen, oder?«
Er legte den Daumen an sein Kinngrübchen und runzelte die Stirn, während er die Widmung betrachtete. »Zugegeben, das ist ein bisschen kniffliger.« Er hielt das Buch dichter vor die Augen, hob die Brauen, dann drehte er das Buch langsam ins Licht. Laurel sah, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Was ist?«, fragte sie.
»Na ja, ihr Geisteswissenschaftler achtet natürlich auf so etwas nicht …«
»Komm auf den Punkt, Gerry.«
Er gab ihr das Buch zurück. »Sieh dir mal die Tinte genauer an. Das ›Für Dorothy‹ wurde mit einer anderen Tinte über die eigentliche Widmung geschrieben.«
Laurel rutschte näher ans Fenster und hielt das Buch so, dass das Sonnenlicht direkt auf die aufgeschlagene Seite fiel. Sie rückte ihre Lesebrille zurecht und betrachtete die Widmung.
Gott, sie war ja eine tolle Detektivin. Nicht zu fassen, dass ihr das nicht selbst aufgefallen war. Die Zeilen waren ganz offensichtlich mit zwei verschiedenen Federn geschrieben worden, die Schrift der eigentlichen Widmung war schwärzer, die Linien waren feiner. Es war natürlich denkbar, dass Vivien mit einer Feder angefangen und dann mit einer anderen weitergeschrieben hatte. Vielleicht mit einem Füllfederhalter, dem die Tinte ausgegangen war. Aber war das wahrscheinlich? Eher nicht. Je genauer sie hinsah, umso deutlicher fielen ihr jetzt auch Unterschiede in der Handschrift auf. Leise sagte sie: »Du willst also andeuten, dass Ma ihren Namen selbst da reingeschrieben hat? Damit es so aussah, als sei das Buch ein Geschenk von Vivien?«
»Ich deute überhaupt nichts an. Ich sage nur, dass zwei verschiedene Federn benutzt wurden. Aber deine Vermutung wäre durchaus denkbar, vor allem in Anbetracht dessen, was Dr. Rufus über Ma zu Papier gebracht hat.«
»Dr. Rufus.« Laurel klappte das Buch zu und sah erwartungsvoll auf. »Erzähl mir alles, was du rausgefunden hast, Gerry. Was hat er über Mas sonderbare …« – sie wedelte mit den Händen »… Fixierung geschrieben?«
»Erstens war es keine Fixierung, sondern eine fixe Idee.«
»Ist das ein Unterschied?«
»Hm, ja. Das eine ist eine medizinische Definition, das andere ist ein Charakterzug. Dr. Rufus fand zwar, dass sie ein paar Probleme hatte – darauf komme ich noch zurück –, aber sie war nie seine Patientin. Dr. Rufus kannte Ma schon als Kind, er lebte mit seiner Familie in Coventry, und seine Tochter und Ma waren Freundinnen. Ich nehme an, er mochte sie und hat Anteil an ihrem Leben genommen.«
Laurel betrachtete das Foto, das sie in der Hand hielt, ihre schöne, junge Mutter. »Das kann ich mir sehr gut vorstellen.«
»Sie haben sich regelmäßig zum Mittagessen getroffen und …«
»Und ganz zufällig hat er haarklein aufgeschrieben, was sie ihm so alles erzählt hat? Ein toller Freund.«
»Wir können froh sein, dass er es getan hat.«
Laurel musste ihm recht geben.
Gerry hatte eine bestimmte Seite in seinem Notizheft aufgeschlagen und betrachtete seine Stichworte. »Also, laut Lionel Rufus ist sie immer schon sehr kontaktfreudig gewesen, verspielt, lustig und mit einer blühenden Fantasie gesegnet – genauso, wie wir unsere Ma kennen. Sie kam aus einfachem Hause, hatte sich aber in den Kopf gesetzt, ein glamouröses Leben zu führen. Sein Interesse an ihr wurde
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