Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
freundlich formuliert, Jimmy, überhaupt nicht böse, und außer ihr wird niemand das Foto jemals zu Gesicht …«
»Nein!« Jimmy hatte seine Sprache wiedergefunden. »Nein, auch sie wird es nicht zu Gesicht bekommen.«
»Was?«
»Darüber wollte ich mit dir reden.« Er steckte das Foto in den Umschlag zurück und schob ihn über den Tisch. »Wirf das weg, Doll. Wir brauchen es nicht. Jetzt nicht mehr.«
»Wie meinst du das?« Misstrauisch zog sie die Brauen zusammen.
Jimmy nahm das Buch aus seiner Tasche, zog den Scheck her aus und schob ihn über den Tisch. Dolly drehte das Papier vorsichtig herum.
Ihre Wangen begannen zu glühen. »Wofür ist das?«
»Sie hat ihn mir gegeben – für uns. Als Bezahlung für meine Arbeit im Krankenhaus und als Belohnung für dich, weil du ihr das Medaillon gebracht hast.«
»Wirklich?« Dollys Augen füllten sich mit Tränen, aber nicht vor Trauer, sondern vor Erleichterung. »Aber Jimmy … das sind zehntausend Pfund.«
»Ja.« Er zündete sich eine Zigarette an, während sie wie benommen den Scheck anstarrte.
»Mehr als ich je zu verlangen gewagt hätte.«
»Ja.«
Dolly sprang auf und küsste ihn, und Jimmy empfand nichts als benommene Kälte.
An dem Nachmittag lief er lange ziellos durch London. Dolly hatte seine Peter-Pan -Ausgabe – es hatte ihm widerstrebt, sich davon zu trennen, aber sie hatte das Buch an sich gerissen und ihn angefleht, es mitnehmen zu dürfen, und wie hätte er ihr erklären sollen, warum er es behalten wollte? Den Scheck hatte er allerdings wieder an sich genommen, und er lag bleischwer in seiner Tasche, während er durch die Straßen streifte. Ohne seine Kamera hatte er keinen Blick für die kleinen, poetischen Lichtblicke des Kriegs, er sah nur das ganze gottverdammte Bild der Zerstörung. Eins wusste er mit Sicherheit: Er würde nie auch nur einen Penny von dem Geld anrühren, und er würde Dolly nie wieder ansehen können, falls sie es tat.
Als er endlich zu Hause ankam, weinte er heiße Tränen der Wut, die er mit dem Handrücken wegwischte. Alles war schreck lich schiefgegangen, und er hatte keine Ahnung, wie er es wieder geraderücken sollte. Sein Vater, dem sein Zustand nicht entgangen war, wollte wissen, ob einer der Nachbarsjungen ihn in der Schule verprügelt hätte – ob er runtergehen und sich den Bengel vorknöpfen solle? In dem Augenblick wünschte er sich nichts so sehr, wie wieder ein Kind zu sein. Er gab seinem Vater einen Kuss auf die Stirn und versicherte ihm, es sei alles gut, und da entdeckte er den Brief auf dem Tisch, der in säuberlicher Handschrift an »Mr. J. Metcalfe« adressiert war.
Die Absenderin war eine Frau namens Katy Ellis. Sie wandte sich an ihn, so entnahm er ihren Zeilen, wegen Mrs. Vivien Jenkins. Während Jimmy den Brief las, begann sein Herz immer heftiger zu klopfen. Katy Ellis bat Jimmy im Wesentlichen darum, sich von Vivien fernzuhalten, und sie brachte einige ziemlich überzeugende Gründe vor, aber Jimmy wusste nur, dass er jetzt erst recht zu ihr gehen musste. Endlich verstand er alles, was ihn bisher nur verwirrt hatte.
Der Brief, den Dolly Smitham an Vivien Jenkins schreiben wollte, und das Foto in dem Umschlag wurden vergessen. Da Dolly weder für das eine noch das andere mehr eine Verwendung hatte, merkte sie nicht, dass der Umschlag mit dem Foto fehlte. Aber so war es. Zur Seite gefegt vom Ärmel ihres weißen Pelzmantels, als sie den Scheck in der Hand gehalten und von Glück überwältigt aufgesprungen war, um Jimmy zu küssen, war er an die Tischkante gerutscht, hatte dort kurz balanciert, war dann heruntergefallen und in dem Spalt zwischen Bank und Wand verschwunden.
Der Umschlag war nicht zu sehen, und er hätte dort liegen bleiben können, Staub ansammeln und verrotten können, bis die Namen der in dem Brief erwähnten Personen nur noch Schall und Rauch gewesen wären. Aber das Schicksal ist launisch, und es kam ganz anders.
In jener Nacht, während Dolly in ihrem schmalen Bett am Rillington Place schlief und im Traum sah, was für ein Gesicht Mrs. White machte, als Dolly verkündete, sie werde aus der Pension ausziehen, warf eine Heinkel He 111 auf dem Weg zu rück nach Berlin eine Zeitbombe ab, die leise durch den warmen Nachthimmel fiel. Der Pilot hatte versucht, den Marble Arch zu treffen, aber er war müde und nicht mehr so zielsicher, und so landete die Bombe direkt vor dem nahe gelegenen Lyons Corner House. Sie explodierte um vier Uhr am nächsten Morgen, als Dolly, die
Weitere Kostenlose Bücher