Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ab.
Sie nahm das Foto von Dorothy und Vivien, das Rose in dem Peter-Pan -Buch gefunden hatte, aus ihrer Jackentasche. Seit ihrer Rückkehr aus Oxford trug sie es zusammen mit dem Buch immer bei sich. Es war für sie zu einer Art Talisman geworden, der erste Hinweis, der sie bei ihrer Suche auf eine Spur geführt hatte, und mit ein bisschen Glück, so hoffte sie, der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Die beiden Frauen waren keine Freundinnen gewesen, hatte Gerry gesagt, und doch mussten sie es gewesen sein, denn welche andere Erklärung konnte es für das Foto geben?
Erneut betrachtete Laurel die beiden, wie sie untergehakt dastanden und in die Kamera lächelten. Wo war das Foto aufgenommen worden? In irgendeinem Raum, so viel war klar, in einem Raum mit Dachschrägen – einem Dachboden vielleicht? Es war niemand anders auf dem Foto zu sehen, aber ein dunkler Schatten hinter den Frauen könnte eine Person sein, die sich schnell bewegte – Laurel sah genauer hin –, jemand ziemlich Kleines, wenn sie nicht alles täuschte. Ein Kind? Möglich. Aber das half ihr auch nicht weiter, Kinder gab es überall. (Oder vielleicht auch nicht? In London, während des Kriegs? Viele wurden evakuiert, vor allem während der ersten Jahre, als London bombardiert worden war.)
Laurel seufzte. Es hatte keinen Zweck. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nur raten. Nichts, was sie bisher entdeckt hatte, lieferte einen Hinweis darauf, wo das Foto aufgenommen worden war. Aber was war mit dem Buch, in dem es all die Jahre gelegen hatte? Hatte das etwas zu bedeuten? Hatten Buch und Foto immer zusammengehört? Waren ihre Mutter und Vivien gemeinsam in einem Theaterstück aufgetreten? Oder war es nur ein zufälliges Zusammentreffen?
Sie konzentrierte sich auf Dorothy, setzte ihre Brille auf und hielt das Foto ins Licht, um die Einzelheiten besser erkennen zu können. Laurel hatte den Eindruck, dass irgendetwas am Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht stimmte. Sie wirkte angespannt, als wäre die gute Laune, die sie dem Fotografen zuliebe zeigte, nicht echt. Es war kein Widerwille – das sicher nicht. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie die Person hinter der Kamera nicht mochte – aber es sah so aus, als wäre ihre gute Laune lediglich gespielt.
»Hey!«
Laurel schrie auf. Gerry erschien in der Türöffnung des Baumhauses.
»Gott, hast du mich erschreckt«, sagte sie und funkelte ihren Bruder böse an.
»Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen«, erwiderte Gerry mit einem Grinsen.
»Sehr witzig. Keine Frage.« Sie schaute aus dem Fenster. Die Einfahrt war leer. »Wie bist du hergekommen? Ich hab gar kein Auto gehört.«
»Teleportation – du weißt schon, wie bei Startrek . Wir arbeiten schon eine Weile daran, und bisher sind die Ergebnisse nicht schlecht. Ich fürchte allerdings, dass ich mein halbes Gehirn in Cambridge zurückgelassen habe.«
Laurel lächelte geduldig. Sosehr sie sich freute, ihren Bruder zu sehen, so wenig war sie im Moment zu Scherzen aufgelegt.
»Du glaubst mir nicht? Also gut. Ich bin mit dem Bus gefahren und vom Dorf aus zu Fuß hergekommen.« Er zwängte sich durch die Tür und setzte sich neben sie. Er wirkte wie ein langgliedriger Riese, als er sich in dem kleinen Baumhaus umsah. »Gott, ist das lange her, dass ich hier oben war. Du hast es dir richtig gemütlich eingerichtet.«
»Gerry.«
»Ich meine, mir gefällt deine Wohnung in London, aber das hier ist viel natürlicher, nicht so protzig.«
»Bist du fertig?« Laurel sah ihn streng an.
Er tat so, als würde er nachdenken, rieb sich das Kinn und schob sich die Haare aus der Stirn. »Ich glaube ja.«
»Schön. Würdest du dann die Güte haben und mir erzählen, was du in London rausgefunden hast? Ich will ja nicht drängen, aber ich versuche, ein ziemlich wichtiges Familiengeheimnis zu enträtseln.«
»Hm, ja. Wenn das so ist …« Er hob den Riemen der grünen Leinentasche, die er sich diagonal umgehängt hatte, kramte mit seinen langen Fingern in der Tasche herum und brachte schließlich ein kleines Notizheft zum Vorschein, in dem er gedankenverloren zu blättern begann.
»Was du da neulich am Telefon erwähnt hast …«, sagte Laurel, um ihrem Bruder auf die Sprünge zu helfen.
»Hm?«, machte der, ohne aufzusehen.
»Du sagtest, Dorothy und Vivien seien gar keine Freundinnen gewesen, sie hätten sich im Gegenteil kaum gekannt.«
»Stimmt.«
»Ich … tut mir leid, aber ich verstehe nicht, wie das möglich sein soll. Kann
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