Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ähnlich, du und ich«, fuhr ihre Mutter fort. »Wahrscheinlich würde ich deshalb so gern verhindern, dass du die gleichen Fehler machst wie ich.«
»Ich mache keinen Fehler.« Laurel setzte sich auf. »Verstehst du das denn nicht? Ich möchte Schauspielerin werden – die Schauspielschule ist das Beste, was mir passieren kann.«
»Laurel …«
»Stell dir vor, du wärst siebzehn, Ma, und du hättest das ganze Leben noch vor dir. Wüsstest du einen Ort, wo du lieber hingehen würdest als London?« Das war das falsche Argument – ihre Mutter hatte nie das geringste Interesse daran gehabt, auch nur einen Ausflug nach London zu machen.
In der Stille, die entstand, hörte man draußen eine Amsel zwitschern. »Nein«, sagte Dorothy schließlich leise und ein bisschen traurig und streichelte Laurels Haar. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
Selbst an jenem Abend, dachte Laurel jetzt, war sie zu ichbezogen gewesen, um sich zu wundern oder ihre Mutter zu fragen, wie sie mit siebzehn gewesen war, wonach sie sich gesehnt hatte und was das für Fehler waren, die ihre Tochter auf keinen Fall wiederholen sollte.
Laurel hielt das Buch hoch, das Rose ihr gegeben hatte, und sagte: »Komisch, nicht? Etwas in Händen zu halten, das ihr vorher gehört hat.« Ihre Stimme zitterte mehr, als ihr lieb war.
»Vorher?«
»Bevor wir da waren. Bevor sie hier gewohnt hat. Bevor sie unsere Mutter war. Denk doch mal! Als Vivien ihr dieses Buch hier geschenkt hat, als das Foto von den beiden aufgenommen wurde, da hat sie noch nicht geahnt, dass wir vier einmal existieren würden.«
»Kein Wunder, dass sie auf dem Foto so fröhlich ist.«
Laurel lachte nicht. »Denkst du manchmal an sie, Rose?«
»An Mummy? Natürlich …«
»Nicht an Ma. Ich meine, denkst du manchmal an die junge Frau, die sie mal war? Damals war sie jemand ganz anderes, und sie hatte ein Leben, über das wir überhaupt nichts wissen. Hast du dich jemals gefragt, wie sie war, wovon sie geträumt hat, was sie gedacht hat?« Laurel warf ihrer Schwester einen verstohlenen Blick zu. »Was sie für Geheimnisse hatte?«
Rose lächelte verunsichert, und Laurel schüttelte den Kopf.
»Schon gut«, sagte Laurel. »Ich bin heute Abend ein bisschen rührselig, das ist alles. Das kommt davon, wenn man nach einer Ewigkeit wieder in seinem alten Kinderzimmer schläft. Weißt du noch, wie Iris immer geschnarcht hat?«, fragte sie mit gespielter Heiterkeit.
Rose lachte. »Schlimmer als Daddy, nicht? Ob sie es immer noch tut?«
»Das werden wir bald wissen. Geht ihr jetzt auch schlafen?«
»Ich wollte noch kurz baden, bevor die anderen unten fertig sind und Daphne das Badezimmer in Beschlag nimmt.« Mit einem Finger zog sie die Haut über einem Auge hoch und flüsterte: »Hat sie sich …?«
»Sieht so aus.«
Rose verzog das Gesicht. »Die Leute kommen auf die verrücktesten Ideen«, sagte sie, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Laurels Lächeln verschwand, als die Schritte ihrer Schwester auf dem Flur verklangen. Sie drehte sich um und betrachtete den Nachthimmel. Die Badezimmertür fiel ins Schloss, und in der Wand hinter ihr begannen die Wasserrohre zu rauschen.
Vor fünfzig Jahren, erzählte Laurel einem fernen Sternbild, hat meine Mutter einen Mann getötet. Sie hat behauptet, es war Notwehr, aber ich habe es gesehen. Sie hat das Messer hoch erhoben und auf den Mann eingestochen, und dann ist der Mann rückwärts zu Boden gestürzt, da, wo das Gras niedergetreten war und die Stiefmütterchen blühten. Sie kannte ihn, sie hatte Angst vor ihm, und ich habe keine Ahnung, warum.
Plötzlich hatte Laurel das Gefühl, dass jede Leere in ihrem Leben, jeder Verlust und jede Traurigkeit, jeder nächtliche Alb traum, jede unerklärliche Niedergeschlagenheit die schattenhafte Gestalt der immer gleichen unbeantworteten Frage annahm; etwas, das sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr begleitete – das unausgesprochene Geheimnis ihrer Mutter.
»Wer bist du, Dorothy?«, flüsterte sie leise. »Wer warst du, bevor du Mutter geworden bist?«
7
Im Zug von Coventry nach London, 1938
I m Alter von siebzehn Jahren war Dorothy Smitham felsenfest davon überzeugt, dass sie als Baby entführt worden war. Es war die einzig mögliche Erklärung. Die Erkenntnis kam ihr an einem Samstagvormittag gegen elf, als sie zusah, wie ihr Vater seinen Bleistift zwischen den Fingern rollte, sich mit der Zunge langsam über die Unterlippe fuhr und dann in sein kleines schwarzes
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