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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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schob es sich unauffällig in den Mund und lehnte den Kopf ans Fenster. Wie genau die Kindesentführung vonstattengegangen war, konnte sie sich allerdings nicht so recht erklären. Denn, wie sie es auch drehte und wendete, Arthur und Janice Smitham war einfach kein Diebstahl zuzutrauen. Sich die beiden dabei vorzustellen, wie sie sich an einen unbeaufsichtigten Kinderwagen heranschlichen, um einen schla fenden Säugling zu rauben, wollte ihr einfach nicht gelingen. Leute, die stahlen, taten dies, weil irgendetwas sie dazu leidenschaftlich antrieb, sei es Not oder Begierde. Arthur Smitham dagegen war der Meinung, das Wort »Leidenschaft« sollte aus dem englischen Wörterbuch gestrichen werden und das Wort »Begierde«, wenn man schon einmal dabei war, gleich mit. Ein Besuch im Zirkus? Reine Geldverschwendung für einen Arthur Smitham.
    Viel wahrscheinlicher war – das Pfefferminzbonbon zerbrach –, dass man Dolly auf der Türschwelle der Smithams abgelegt und dass nicht Begierde, sondern Pflichtbewusstsein sie in den Schoß der Familie geführt hatte.
    Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie sah es klar und deutlich vor sich. Die verheimlichte Schwangerschaft, die Angst vor dem Zirkusdirektor, die Ankunft des Zirkus in Coventry … Eine Zeit lang versucht das junge Paar sich tapfer durchzuschlagen und das Kind liebevoll großzuziehen, aber ohne Arbeit (der Bedarf an Hochseilartisten ist schließlich nicht sehr groß) und ohne Geld für Lebensmittel geraten sie immer mehr in Verzweiflung. Als sie eines Abends durch die Stadt gehen, ihr Baby auf dem Arm, das inzwischen zu schwach ist, um zu weinen, fällt ihnen ein Haus auf. Die Stufen zur Tür sind sauberer und gepflegter als alle anderen, hinter einem Fenster brennt Licht, und es duftet nach Janice Smithams köstlichem Rinderbraten. Sie wissen sofort, was sie zu tun haben …
    »Ich halt das aber nicht mehr so lange aus!«
    Dolly öffnete die Augen. Ihr Bruder stand da und trat von einem Bein aufs andere.
    »Reiß dich zusammen, Cuthbert, wir sind fast da.«
    »Aber ich muss aufs Klo!«
    Dolly schloss wieder die Augen, noch fester als zuvor. Zugegeben, die tragische Geschichte des jungen Paars glaubte sie selbst nicht so richtig, aber dass sie, Dolly, etwas ganz Besonderes war, daran bestand überhaupt kein Zweifel. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein, als sei sie lebendiger als andere, und sie spürte, dass die Welt, das Schicksal oder die Zukunft Großes für sie bereithielt. Und jetzt hatte sie den Beweis – einen wissenschaftlichen Beweis. Caitlins Vater, der Arzt war und sich mit solchen Dingen auskannte, hatte ihn ihr geliefert, als sie im Wohnzimmer von Caitlins Eltern Blotto gespielt hatten. Er hatte eine Karte mit Tintenklecksen nach der anderen hochgehalten, und Dolly sollte sagen, was ihr gerade dazu einfiel. »Erstaunlich«, hatte er, die Pfeife zwischen den Zähnen, vor sich hingemurmelt, als sie die Hälfte durchhatten, und »faszinierend« und dabei den Kopf geschüttelt. »Wer hätte das gedacht«, hatte er schließlich mit einem Lächeln gemurmelt, das ihn für den Vater einer Freundin viel zu attraktiv machte. Nur Caitlins säuerliche Miene hatte Dolly davon abgehalten, Dr. Rufus in sein Arbeitszimmer zu folgen, als er ihre Antworten als »wirklich außergewöhnlich« bezeichnet und vorgeschlagen – nein, sie gedrängt – hatte, weitere Tests durchzuführen.
    Außergewöhnlich. Dolly musste immer daran denken. Außer gewöhnlich. Sie war keine gewöhnliche Smitham, und sie würde mit Sicherheit auch nie eine werden. Sie würde ein wunderbares, glanzvolles Leben führen. Vielleicht würde sie ja von zu Hause fortlaufen und ihr Glück beim Zirkus versuchen.
    Der Zug fuhr jetzt langsamer und näherte sich dem Bahnhof von Euston. Die Häuser von London standen dicht an dicht, und Dollys Herz klopfte vor Aufregung. London! Eine Stadt wie ein großer wirbelnder Strudel (so stand es jedenfalls in dem Reiseführer, den sie in der Schublade mit ihrer Unterwäsche aufbewahrte), mit unzähligen Theatern und voller interessanter Menschen, die ein aufregendes Leben führten.
    Als Dolly noch klein gewesen war, hatte ihr Vater manchmal beruflich nach London fahren müssen. An solchen Tagen war sie heimlich aufgeblieben und hatte abends, wenn ihre Mutter glaubte, sie schliefe längst, durch das Treppengeländer gelugt in der Hoffnung, ihren Vater zu sehen, wenn er nach Hause kam. Mit angehaltenem Atem hatte sie auf das Geräusch

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