Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
beiden sich denn kennengelernt?«
»Das hat sie mir nicht gesagt.«
»Warum haben wir sie nie gesehen?«
»Keine Ahnung.«
»Komisch, oder, dass sie sie nie erwähnt hat?« Laurel trank einen Schluck Wein. »Möchte wissen, warum.«
Der Kurzzeitwecker klingelte. »Vielleicht haben sie sich irgendwann zerstritten. Sich auseinandergelebt. Was weiß ich?« Rose schlüpfte in die Ofenhandschuhe. »Warum interessierst du dich so sehr dafür?«
»Tu ich gar nicht.«
»Dann lass uns jetzt essen«, sagte Rose und nahm die Form mit dem Obstauflauf mit beiden Händen aus dem Ofen. »Sieht köstlich aus.«
»Sie ist tot«, sagte Laurel. Sie wusste es einfach. »Vivien ist gestorben.«
»Woher weißt du das?«
»Ich meinte …« Laurel schluckte. »Vielleicht ist sie ja gestorben. Schließlich war damals Krieg. Ist doch möglich, meinst du nicht?«
»Alles ist möglich.« Rose piekte mit einer Gabel vorsichtig in den Auflauf. »Zum Beispiel dass mir diese Glasur so schön gelungen ist! Wollen wir rübergehen?«
»Ehrlich gesagt …« Nach oben gehen und ihre Erinnerungen sortieren war im Moment das Einzige, was Laurel interessierte. »… du hattest recht, vorhin. Ich fühle mich nicht besonders gut.«
»Du willst nicht mitessen?«
Laurel schüttelte den Kopf. Sie war schon fast an der Tür. »Ich glaube, ich lege mich heute einfach früh schlafen. Nicht dass ich morgen krank bin.«
»Soll ich dir irgendwas raufbringen? Eine Paracetamol? Eine Tasse Tee?«
»Nein danke«, sagte Laurel. »Nur eins, Rose …«
»Ja?«
»Das Theaterstück.«
»Welches Theaterstück?«
» Peter Pan – das Buch, in dem du das Foto gefunden hast. Hast du das griffbereit?«
»Du bist ja lustig«, erwiderte Rose mit einem schiefen Lächeln. »Ich muss es erst raussuchen.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Auflauf. »Später, okay?«
»Natürlich, ist nicht eilig. Ich will mich nur ein bisschen ausruhen. Lasst euch den Auflauf schmecken. Und – Rosie?«
»Ja?«
»Tut mir leid, dass ich dich allein zurück ins Gefecht schicke.«
Zu erfahren, dass Vivien Australierin gewesen war, hatte Laurel auf eine Idee gebracht. Ihr war schlagartig ein Licht aufgegangen, und plötzlich hatte sie gewusst, warum Vivien wichtig war. Jetzt erinnerte sie sich sogar wieder, wo sie den Namen vor vielen Jahren zum ersten Mal gehört hatte.
Während ihre Schwestern sich über den Himbeerauflauf hermachten und nach einem Messer suchten, das sie nie finden würden, stieg Laurel auf den Dachboden, um ihre Truhe hervorzukramen. Es gab eine für jedes Kind, dafür hatte Dorothy gesorgt. Der Krieg war schuld, hatte ihr Vater ihnen einmal erklärt. Ihre Mutter hatte alles verloren, was ihr lieb und teuer gewesen war, als eine Bombe ihr Elternhaus in Coventry zerstört und ihre Vergangenheit in Schutt und Asche gelegt hatte. Sie wollte auf keinen Fall zulassen, dass ihren Kindern das gleiche Schicksal widerfuhr. Sie konnte ihnen vielleicht nicht jeden Kummer im Leben ersparen, aber sie konnte dafür sorgen, dass sie ihre Schulfotos fanden, wenn sie sie brauchten. Die Leidenschaft ihrer Mutter für Besitztümer – Dinge, die man anfassen und denen man eine besondere Bedeutung beimessen konnte – hatte schon beinahe an Besessenheit gegrenzt. Alles wurde aufbewahrt; nichts wurde weggeworfen; an Traditionen wurde mit beinahe religiösem Eifer festgehalten. Ein Beispiel: das Messer.
Laurels Truhe stand hinter dem elektrischen Heizstrahler, den ihr Vater eigentlich immer hatte reparieren wollen. Noch ehe sie ihren Namen auf dem Deckel las, wusste sie, dass es sich um ihre Truhe handelte. Sie erkannte sie an den braunen Lederriemen und dem kaputten Schloss. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Seltsam, wie ein Gegenstand, an den sie seit Ewigkeiten keinen Gedanken verschwendet hatte, ihr ganz plötzlich so präsent sein konnte. Sie wusste genau, wonach sie suchte, wie es sich in ihren Händen anfühlen würde, welche Gefühle es in ihr auslösen würde. Ein schemenhaftes Abbild der jüngeren Laurel kniete neben ihr, während sie die Riemen löste.
Als sie den Deckel anhob, schlug ihr ein Geruch nach Staub, Feuchtigkeit und einem Duftwasser entgegen, dessen Namen sie vergessen hatte, ein Duft, der sie augenblicklich in die Zeit ihrer Jugend zurückversetzte. Die Truhe war vollgestopft mit Tagebüchern, Fotos, Briefen, Zeugnissen, ein paar Schnittmustern für Caprihosen … Sie nahm einen Stapel nach dem anderen heraus, ohne die Sachen genauer durchzusehen.
Nachdem
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