Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
sie sich auf der linken Seite bis zur Hälfte vorgearbeitet hatte, fand sie, was sie suchte. Ein dünnes Buch, vollkommen unscheinbar, aber für Laurel voller Erinnerungen.
Vor einigen Jahren hatte man ihr die Rolle der Meg in Die Geburtstagsfeier angeboten; es wäre eine Gelegenheit gewesen, im Lyttelton Theatre aufzutreten, doch Laurel hatte abgelehnt. Es war das erste und einzige Mal, dass sie ihr Privatleben wichtiger genommen hatte als ihre Karriere. Sie hatte vorgegeben, zu sehr mit Dreharbeiten beschäftigt zu sein, was glaubhaft war, aber nicht der Wahrheit entsprach. Die Notlüge war unvermeidlich gewesen. Sie hätte die Rolle nicht spielen können. Das Stück hing untrennbar mit dem Sommer 1961 zusammen; sie hatte es in dem Jahr immer und immer wieder gelesen, seit dieser Junge – sie konnte sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern; wie lächerlich, so verliebt, wie sie gewesen war – ihr das Buch geschenkt hatte. Sie hatte den Text auswendig gelernt und all ihre Wut und Frustration in ihre Rolle gelegt. Dann war der Fremde bei ihnen aufgetaucht, und diese Geschichte hatte ihre Gedanken und Gefühle in ein derartiges Chaos gestürzt, dass ihr jedes Mal hundeelend zumute wurde, wenn sie nur an das Stück dachte.
Selbst jetzt brach ihr der Schweiß aus, und ihr Herz schlug schneller. Aber sie brauchte nicht das Buch selbst, sondern etwas, das sie in dem Buch aufbewahrt hatte. Und es war noch da, denn sie sah gleich die vergilbten Kanten zwischen den Seiten hervorlugen. Zwei Zeitungsartikel: der erste ein eher oberflächlicher Bericht aus dem Lokalblatt über den Tod eines Mannes in einem Sommer in Suffolk, der zweite ein Nachruf, heimlich aus der Times gerissen, die der Vater ihrer Freundin Shirley damals jeden Tag aus London mitbrachte. »Sieh mal«, hatte er eines Abends zu Laurel gesagt, als sie bei ihrer Freundin gewesen war, »ein Artikel über diesen Mann, der bei euch gestorben ist.« Es war ein ausführlicher Bericht, aus dem hervorging, dass der Mann kein gewöhnlicher Landstreicher gewesen war. Lange bevor er in Greenacres aufgetaucht war, hatte er das Leben eines angesehenen Bürgers geführt. Er hinterließ keine Kinder, war jedoch früher einmal verheiratet gewesen.
Die Glühbirne, die an der Decke baumelte, spendete nicht genug Licht zum Lesen. Laurel klappte die Truhe zu und nahm das Buch mit nach unten.
Man hatte ihr das ehemalige Kinderzimmer der Schwestern zugeteilt – ein weiteres Privileg der Ältesten –, und das Bett war bereits frisch bezogen. Jemand – wahrscheinlich Rose – hatte ihren Koffer hochgetragen; aber Laurel packte ihre Sachen noch nicht aus. Sie machte die Fenster weit auf und setzte sich auf die Fensterbank.
Eine Zigarette zwischen zwei Fingern, zog sie die Zeitungsausschnitte aus dem Buch. Den Artikel aus dem Lokalblatt legte sie beiseite und nahm sich den Nachruf vor. Sie überflog die Zeilen auf der Suche nach einem Wort, von dem sie wusste, dass es da war.
Am Ende des ersten Drittels fand sie den Namen.
Vivien.
Laurel las den ganzen Satz: 1938 heiratete Jenkins Miss Vivien Longmeyer, geboren in Queensland, Australien, aber aufgewachsen bei einem Onkel in Oxfordshire . Weiter unten stand: Vivien Jenkins kam 1941 bei einem schweren Bombenangriff in Notting Hill ums Leben .
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Ihre Finger zitterten.
Natürlich war es möglich, dass es zwei Viviens gab, die beide aus Australien stammten. Es war möglich, dass die Freundin ihrer Mutter aus Kriegszeiten nicht das Geringste mit der Australierin namens Vivien zu tun hatte, deren Mann vor Laurels Elternhaus gestorben war. Aber wahrscheinlich war es nicht, oder?
Und wenn ihre Mutter Vivien Jenkins gekannt hatte, dann hatte sie mit Sicherheit auch Henry Jenkins gekannt. »Lange nicht gesehen«, hatte der Mann gesagt, und dann hatte Laurel die Angst im Gesicht ihrer Mutter gesehen.
Die Tür ging auf, und Rose trat ein. »Geht’s dir besser?«, fragte sie und rümpfte die Nase über den Zigarettenqualm.
»Meine Medizin«, sagte Laurel, wedelte kurz mit der Zigarette und hielt sie dann aus dem Fenster. »Aber nicht petzen; hab keine Lust auf Stubenarrest.«
»Ich schweige wie ein Grab.« Rose kam näher und hielt ihr ein Buch hin. »Es ist leider ein bisschen abgegriffen.«
Abgegriffen war reichlich untertrieben. Der Buchdeckel wurde nur noch von ein paar Fäden zusammengehalten, und die ehemals grüne Pappe darunter war von Schmutz – oder vielleicht auch,
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