Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
einzuschlafen, vor allem, wo sich seine Kamera in dem Rucksack befand. Er durfte sie auf gar keinen Fall verlieren, sie war der Schlüssel zu seiner Zukunft.
»Ihre Fahrkarte, Sir.« Der Schaffner musterte ihn streng.
»Ja, entschuldigen Sie. Ich hab sie gleich.« Er kramte die Fahrkarte aus seiner Tasche und reichte sie dem Schaffner.
»Sie fahren bis Coventry?«
»Ja, Sir.«
Mit einem Anflug von Enttäuschung, weil er keinen Schwarz fahrer erwischt hatte, gab der Schaffner Jimmy die Fahrkarte zurück und tippte zum Gruß an seine Mütze, ehe er seinen Gang fortsetzte.
Jimmy nahm das Buch, das er sich aus der Bücherei ausgelie hen hatte, aus dem Rucksack, las jedoch nicht darin. Ihm schwirr te viel zu sehr der Kopf mit Erinnerungen an Dolly und den Tag in Bournemouth, Gedanken an London und die Zukunft, um sich auf Steinbecks Von Mäusen und Menschen konzentrieren zu können. Er war immer noch verwirrt von dem, was zwischen ihm und Dolly passiert war. Er hatte gehofft, sie mit der Neuigkeit zu überraschen, auf keinen Fall hatte er ihr Sorgen bereiten wollen; trotzdem wusste er, dass er das Richtige getan hatte.
Schließlich würde sie keinen Mann heiraten wollen, der mittellos war, ganz bestimmt nicht. Doll mochte Glitzerkram und Tand, Andenken zum Sammeln. Vom Pavillon aus hatte er sie heute beobachtet und gesehen, wie sie immer wieder zu den Leuten bei der Strandhütte hinübergeschielt hatte, zu der jungen Frau in dem silbernen Kleid; was auch immer sie sich unter einem Leben in einem Bauernhaus vorstellte, er wusste, dass sie sich in Wahrheit nach einem aufregenden Leben in der Großstadt sehnte, und allem, was man mit Geld kaufen konnte. Natürlich tat sie das. Sie war schön und lebenslustig und charmant; sie war siebzehn. Dolly wusste nicht, wie es war, wenn man kein Geld hatte, und sie sollte es auch nicht erfahren müssen. Sie hatte einen Mann verdient, der ihr alles bieten konnte, was sie sich wünschte, keinen, der ihr zumutete, sich von Resten aus der Fleischerei zu ernähren und mit einem Tropfen Kondensmilch im Tee zu begnügen, weil sie sich keinen Zucker leisten konnten. Jimmy würde hart arbeiten, um dieser Mann zu werden, und sobald er das geschafft hatte, würde er sie heiraten und nie wieder gehen lassen.
Aber erst dann.
Jimmy wusste nur zu gut, wie es Leuten erging, die ohne die nötigen finanziellen Mittel aus Liebe heirateten. Seine Mutter hatte sich ihrem wohlhabenden Vater widersetzt und Jimmys Vater geheiratet, und eine Zeit lang hatten die beiden im siebten Himmel geschwebt. Aber das war nicht von Dauer gewesen. Jimmy erinnerte sich noch gut daran, wie er eines Tages aufgewacht war und festgestellt hatte, dass seine Mutter nicht mehr da war. »Einfach verschwunden«, hörte er die Leute auf der Straße flüstern, und Jimmy hatte sich an die Zaubervorstellung erinnert, die er eine Woche zuvor mit seiner Mutter zusammen gesehen hatte. Er hatte sich den Kopf zerbrochen, wie seine Mutter verschwunden sein könnte, hatte sich vorgestellt, wie ihr Körper sich vor seinen Augen zuerst in einzelne Teilchen und dann in Luft auflöste. Wenn es jemanden gab, der zu einer solchen Zauberei fähig war, dann war es seine Mutter.
Wie so oft, wenn es in seiner Kindheit um entscheidende Dinge gegangen war, hatten ihm Gleichaltrige die Augen geöffnet, lange bevor ein wohlwollender Erwachsener auf die Idee kam, ihn aufzuklären. Dem kleinen Jimmy Metcalfe ist die Mutter weggelaufen … ist mit ’nem Reichen durchgebrannt … Das hatte Jimmy auf dem Schulhof aufgeschnappt und seinem Vater erzählt, aber der hatte sich in Schweigen gehüllt. Er war mager geworden, wirkte erschöpft und stand die meiste Zeit am Fenster, angeblich, weil er auf einen wichtigen Geschäftsbrief wartete und nach dem Briefträger Ausschau hielt. Er hatte nur Jimmys Hand getätschelt und gemurmelt, es würde alles gut werden, sie beide würden das schon schaffen, sie hätten ja immer noch einander. Die Art, wie sein Vater das sagte, so als müsste er nicht seinen Sohn, sondern sich selbst überzeugen, hatte Jimmy beunruhigt.
Jimmy lehnte die Stirn gegen das Fenster und sah zu, wie die Schienen unter ihm vorbeiflogen. Sein Vater. Er war der einzige Haken an der Sache mit Jimmys Zukunftsplänen. Er konnte ihn nicht allein in Coventry zurücklassen, nicht jetzt. In letzter Zeit war sein Vater ziemlich durcheinander, und es kam immer wieder vor, dass er den Abendbrottisch für Jimmys Mutter mitdeckte. Aber die meiste Zeit
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