Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Mäuse.« Bloß weil sie den Spruch lustig fand.)
Laurel hatte sich dabei ertappt, wie sie während der Geburtstagsfeier das Gesicht ihrer Mutter betrachtete, als könnte sie die Antworten auf das Rätsel darin lesen. (Woher kanntest du diesen Henry Jenkins, Ma? Ich nehme an, ihr wart keine guten Freunde.) Sie hatten am Donnerstagvormittag im Garten des Pflegeheims gefeiert – das Wetter war so schön, und es wäre unverzeihlich gewesen, wie Iris bemerkt hatte, einen so herrlichen Tag nicht auszunutzen, nachdem der Sommer sie bis dahin so stiefmütterlich behandelt hatte.
Es war noch immer schön, das Gesicht ihrer Mutter. Als junge Frau musste sie eine umwerfende Erscheinung gewesen sein; sie war viel schöner als Laurel, schöner als alle ihre Töchter, vielleicht mit Ausnahme von Daphne. Sie wäre bestimmt nicht von Regisseuren in Charakterrollen gedrängt worden. Aber wenn es etwas gab, worauf man sich verlassen konnte, dann darauf, dass Schönheit – vor allem von der Jugend verliehene – nicht von Dauer war, und ihre Mutter war alt geworden. Ihre Haut war erschlafft und voller Altersflecken; ihre Knochen schienen schwächer zu werden, sodass sie mit der Zeit immer mehr schrumpfte und ihr Haar immer schütterer wurde. Aber das Gesicht war noch immer dasselbe. Ihre Augen, obwohl sie müde waren, besaßen noch immer diesen Schalk, dieses Funkeln eines Menschen, der sich gern amüsierte, und ihre Mundwinkel zeigten immer leicht nach oben, als müsste sie gerade an einen Witz denken. Es war ein Gesicht, das Fremde anzog und bezauberte und in ihnen den Wunsch weckte, diese Frau näher kennenzulernen. Die Art, wie sie einen mit einem flüchtigen Zucken der Kiefermuskeln wissen ließ, dass auch sie gelitten hatte, aber dass alles gut werden würde, allein deswegen, weil man in ihrer Nähe war: Das machte ihre wahre Schönheit aus – ihre Präsenz, ihr Frohsinn, ihre Anziehungskraft. Und dann war da noch ihr unbändiges Vergnügen, anderen die unglaublichsten Geschichten aufzutischen.
»Meine Nase ist viel zu groß für mein Gesicht«, hatte sie einmal gesagt, als Laurel noch klein gewesen war und ihr dabei zugesehen hatte, wie sie sich für irgendeinen Anlass fein machte. »Man hat mich völlig verkannt. Ich hätte einen großartigen Parfümeur abgegeben.« Dann hatte sie sich vom Spiegel abgewandt und auf diese verschmitzte Weise gelächelt, die Laurels Herz stets erwartungsvoll hatte schneller schlagen lassen. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Laurel, die am Fußende des Elternbetts saß, hatte genickt, und ihre Mutter hatte sich zu ihr hinuntergebeugt und ihre Nase an der ihrer Tochter gerieben. »Das liegt daran, dass ich mal ein Krokodil war. Lange, bevor ich deine Mummy wurde.«
»Wirklich?«, hatte Laurel atemlos gefragt.
»Ja, aber nach einer Weile hatte ich es satt. Immer nur herumzuschwimmen und das Maul aufzureißen. Und so ein langer Krokodilsschwanz kann ganz schön schwer sein, vor allem wenn er nass ist.«
»Hast du dich deswegen in eine Frau verwandelt?«
»O nein, das kam anders. Eines Tages lag ich am Flussufer im Sand …«
»In Afrika?«
»Natürlich. Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass es hier in England Krokodile gibt, oder?«
Laurel schüttelte den Kopf.
»Ich lag also da und sonnte mich, als ein kleines Mädchen mit seiner Mummy vorbeispaziert kam. Die beiden hielten sich an der Hand, und ich dachte, so etwas möchte ich auch gern tun. Deswegen bin ich eine Frau geworden. Und dann kamst du auf die Welt. Alles in allem bin ich sehr zufrieden. Außer mit meiner Nase.«
»Aber wie hast du das gemacht?«, fragte Laurel mit großen Augen. »Wie hast du dich in eine Frau verwandelt?«
»Na ja.« Dorothy trat wieder vor den Spiegel und richtete die Träger ihres Kleids. »Ich kann dir nicht alle meine Geheimnisse verraten, oder? Jedenfalls nicht alle auf einmal. Frag mich das ein andermal. Wenn du größer bist.«
Ihre Mutter hatte immer eine blühende Fantasie gehabt. »Notgedrungen«, schnaubte Iris auf dem Heimweg von der Geburtstagsfeier. »Irgendwie musste sie ja mit uns zurechtkommen. Eine weniger fantasievolle Frau wäre komplett durchge dreht.« Womit Iris recht hatte, wie Laurel zugeben musste. Fünf quengelnde, tobende Kinder, ein Bauernhaus, in dem es im mer irgendwo durchregnete, Vogelnester im Kamin. Der rein s te Albtraum.
Aber es war kein Albtraum gewesen. Es war der Himmel gewesen. Die Art von häuslichem Leben, die von Autoren in Romanen gern voller
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