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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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saß er am Fenster und wartete auf sie.
    Der Zug fuhr in den Waterloo-Bahnhof ein, und Jimmy warf sich den Rucksack über die Schulter. Er würde eine Möglichkeit finden. Ganz bestimmt. Die Zukunft lag vor ihm, und er war entschlossen, sich ihr zu stellen. Die Kamera fest in der Hand, sprang er aus dem Zug und ging Richtung Untergrundbahn, um nach Coventry zu fahren.
    Zur selben Zeit stand Dolly vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer im Bellevue, in prächtigen silbernen Satin gehüllt. Natürlich würde sie das Kleid seiner Besitzerin zurückgeben, aber sie hätte es sich nie verziehen, wenn sie es nicht wenigstens einmal anprobiert hätte. Sie richtete sich kerzengerade auf und betrachtete ihr Spiegelbild. Wie ihre Brüste sich im Rhythmus ihres Atems hoben und senkten, wie der Ausschnitt ihr schönes Dekolleté zur Geltung brachte, wie der silberne Stoff im Licht changierte. So etwas hatte sie noch nie angehabt; keins von den langweiligen Kleidern ihrer Mutter war auch nur entfernt damit vergleichbar. Nicht einmal Caitlins Mutter besaß ein solches Kleid. Dolly fühlte sich wie verwandelt.
    Sie wünschte, Jimmy könnte sie jetzt sehen. Dolly berührte ihre Lippen, und ihr stockte der Atem bei der Erinnerung an seinen Kuss, an seinen Blick, als er das Foto von ihr gemacht hatte. Es war ihr erster richtiger Kuss gewesen. Sie war nicht mehr dieselbe, die sie noch am Morgen gewesen war. Sie fragte sich, ob ihre Eltern das wohl bemerken würden, ob alle es sehen würden, dass ein Mann wie Jimmy, ein erwachsener, erfahrener Mann mit Arbeiterhänden, der in London sein Geld als Fotograf verdiente, sie voller Begierde angeschaut und so geküsst hatte, als meinte er es wirklich ernst.
    Dolly glättete das Kleid über ihren Hüften. Lächelte einen unsichtbaren Bekannten an, der an ihr vorbeiging. Lachte über einen unhörbaren Witz. Dann drehte sie sich um die eigene Achse und ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf das schmale Bett fallen. »London«, sagte sie laut zu der Farbe, die von der Zimmerdecke abblätterte. Dolly hatte eine Entscheidung getroffen, und die Aufregung darüber brachte sie fast um. Sie würde nach London gehen; sie würde es ihren Eltern sagen, sobald die Ferien zu Ende waren und sie alle wieder nach Coventry fuhren. Ihre Eltern würden entsetzt sein über die Idee, aber es war ihr Leben, und sie war nicht bereit, sich den Konventionen zu beugen; sie gehörte nicht in eine Fahrradfabrik; sie würde tun, was sie wollte. In der großen, weiten Welt warteten Abenteuer auf sie. Sie brauchte sich nur auf den Weg zu machen.

9
    London, 2011
    D as Wetter war grau und ungemütlich, und Laurel war froh, dass sie ihren warmen Mantel mitgenommen hatte. Die Produzenten des Dokumentarfilms hatten angeboten, einen Wagen zu schicken, aber sie hatte gesagt, vom Hotel sei es nicht weit, sie gehe lieber zu Fuß. Sie war schon immer gern gelaufen, und inzwischen hatte es den zusätzlichen Vorteil, dass man auch den Ärzten damit Freude zu bereiten schien. Heute war ihr der kurze Fußmarsch besonders willkommen; die frische Luft würde ihr helfen, sich zu sammeln. Das für den Nachmittag angesetzte Interview hatte sie ungewöhnlich nervös gemacht. Bei dem Gedanken an die grellen Scheinwerfer, das gnadenlose Auge der Kamera, die Fragen des freundlichen jungen Journalisten wanderten Laurels Finger in ihre Handtasche, auf der Suche nach einer Zigarette. So viel zum Thema Ärzten Freude bereiten.
    An der Ecke Kensington Church Street blieb sie stehen, um ein Streichholz anzureißen. Als sie es auf die Straße fallen ließ, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Proben am Set waren früher als geplant zu Ende gewesen, und das Interview begann erst um drei. Nachdenklich zog sie an ihrer Zigarette. Wenn sie sich beeilte, konnte sie sich einen kleinen Umweg erlauben. Laurel schaute in Richtung Notting Hill. Es war nicht weit, sie würde nicht lange brauchen; trotzdem war sie hin-und hergerissen. Sie hatte das Gefühl, dass sie an einem Scheideweg stand und dass hinter der scheinbar simplen Entscheidung alle möglichen unheilvollen Verwicklungen lauerten. Aber nein, sie machte sich zu viele Gedanken. Sie sollte einfach hingehen und nachsehen. Es wäre dumm, es nicht zu tun, wo sie schon einmal in der Nähe war. Sie klemmte sich die Hand tasche unter den Arm und bog entschlossen von der Kensington High Street ab. (»Husch, husch, ihr Lieben«, hatte ihre Mutter früher immer gesagt, »wer trödelt, den beißen die

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