Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Wärme beschrieben und von Kritikern gern als sentimental verunglimpft wurde. (Bis die Sache mit dem Messer passierte. Schon besser, würden die Kritiker schnauben.) Laurel erinnerte sich, wie sie als übellauniger Teenager die Augen verdreht und sich gefragt hatte, wie jemand sich mit so einem langweiligen Leben zufriedengeben konnte. Das Wort »Idylle« hatte damals für Laurel noch nicht existiert, die 1958 die Bücher von Kingsley Amis verschlang. Aber sie hätte nicht gewollt, dass ihre Eltern sich änderten. Die Jugend genießt das Vorrecht der Arroganz, und für Laurel stand einfach fest, dass ihre Eltern nicht annähernd so abenteuerlustig waren wie sie selbst. Nie hatte sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass hinter der Fassade der glücklichen Hausfrau und Mutter noch etwas anderes existieren könnte; dass ihre Mutter einmal jung gewesen sein könnte, entschlossen, nicht so zu werden wie ihre Mutter. Und dass sie ihren Kindern womöglich etwas aus ihrer Vergangenheit verheimlichte.
Doch jetzt holte die Vergangenheit sie wieder ein. Sie nahm Laurel gefangen, seit sie im Pflegeheim das Foto von Vivien gesehen hatte. Sie lauerte ihr hinter jeder Ecke auf, flüsterte ihr nachts ins Ohr, bescherte ihr Albträume von glänzenden Messern und von kleinen Jungen in Spielzeugraketen, die versprachen, irgendwann zurückzukommen und alles in Ordnung zu bringen. Sie konnte sich kaum noch auf etwas anderes konzentrieren, weder auf den Film, dessen Produktion in der kommenden Woche beginnen sollte, noch auf die Interview-Serie, die sie gerade aufnahm. Alles drehte sich nur noch darum, die Wahrheit über die geheime Vergangenheit ihrer Mutter herauszufinden.
Und dass es eine geheime Vergangenheit gab, das stand für Laurel außer Frage. Eine Bemerkung ihrer Mutter am letzten Donnerstag hatte dies einmal mehr bestätigt. An ihrem neunzigsten Geburtstag, als ihre drei Urenkelinnen aus Gänseblümchen Kränze flochten und ihr Enkel seinem Sohn das blutende Knie mit einem Taschentuch verband und ihre Töchter darauf achteten, dass alle genug Kuchen und Tee bekamen, und plötz lich jemand rief: »Eine Rede! Eine Rede!«, hatte Dorothy Nicol son selig gelächelt. Sie hatte vor einem Strauch spät blühender Rosen gesessen, die Hände verschränkt und gedankenverloren an den Ringen gespielt, die inzwischen für ihre knochigen Finger zu weit waren. Dann hatte sie geseufzt. »Was habe ich für ein Glück«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Seht euch nur an, alle meine Kinder. Ich bin so dankbar, dass das Glück …« Ihre alten Lippen zitterten, und ihre Lider flatterten und fielen zu, und die anderen hatten sie so sehr mit Küssen und Ausrufen wie »Liebste, liebste Mummy!« überschüttet, dass sie nicht mitbekamen, wie sie den Satz beendete: »… mir eine zweite Chance gegeben hat.«
Aber Laurel hatte es gehört. Und sie hatte das schöne, müde, vertraute, geheimnistuerische Gesicht ihrer Mutter noch intensiver gemustert. Auf der Suche nach Antworten. Antworten, von denen sie wusste, dass es sie gab. Denn jemand, der ein langweiliges, mustergültiges Leben geführt hatte, bedankte sich nicht für eine zweite Chance.
An der Ecke Campden Grove lag ein großer Laubhaufen. Die Straßenreinigung war noch nicht vorbeigekommen, dachte Laurel beglückt. Sie stapfte an der dicksten Stelle durch das knisternde Laub, und plötzlich war sie wieder acht Jahre alt und tollte im Wald hinter Greenacres herum. »Macht den Sack bis oben voll, Kinder. Die Flammen sollen bis zum Himmel reichen.« Das war Ma, und es war der 5. November, der Gedenktag der Pulververschwörung, an dem überall Freudenfeuer entzündet wurden. Laurel und Rose in Gummistiefeln und dicken Schals, Iris ein dick eingepacktes Baby im Kinderwagen. Gerry, der später den Wald lieben würde wie kein Zweiter in der Familie, war noch nicht mehr als ein Flüstern, ein Glühwürmchen am rosigen Abendhimmel. Daphne, ebenfalls noch ungeboren, machte Purzelbäume im Bauch ihrer Mutter, wie um zu rufen: Ich bin da! Ich bin da! (»Das war, als du noch tot warst«, sagten die älteren Geschwister später zu ihr, wenn das Gespräch auf etwas kam, das vor ihrer Geburt passiert war. Die Vorstellung, tot gewesen zu sein, machte ihr nichts aus, dafür umso mehr, dass das fröhliche, lärmende Spektakel ohne sie stattgefunden hatte.)
Auf halbem Weg die Straße hinunter, kurz nachdem sie Gordon Place überquert hatte, blieb Laurel stehen. Da war das Haus mit der Nummer 25.
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