Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
Vom Netzwerk:
gelegenes Bauernhaus vorgekommen, in dem sie wohnen würden, mit verschlossenen Türen und einem gemeinsamen Bett. Und sie wären völlig frei – in körperlicher und moralischer Hinsicht –, eine unwiderstehliche Vorstellung für ein Schulmädchen wie Dolly, deren Mutter immer noch ihre Schuluniformblusen stärkte und bügelte.
    Sich ihr gemeinsames Leben auszumalen, machte sie schwind lig vor Glück, und sie nahm Jimmys Arm, als sie das von der Sonne beschienene Feld verließen und in die schattige Gasse einbogen. Jimmy blieb stehen und zog sie zu der steinernen Grundstücksmauer eines nahe gelegenen Hauses.
    Er lächelte im Zwielicht, etwas nervös, so schien es ihr, und sagte: »Dolly.«
    »Ja.« Jetzt würde es geschehen. Dolly bekam kaum noch Luft.
    »Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss. Etwas sehr Wichtiges.«
    Sie lächelte, und ihr Gesicht war so schön, so offen und so erwartungsvoll, dass Jimmys Brust wie Feuer brannte. Er konnte es nicht fassen, dass er es getan hatte, dass er sie so geküsst hatte, wie er es sich erträumt hatte, und es war genauso wunderbar gewesen, wie er erwartet hatte. Und das Beste war, wie sie seinen Kuss erwidert hatte, in diesem Kuss lag Zukunft. Sie stammten vielleicht aus gegensätzlichen Stadtteilen, aber sie waren gar nicht so unterschiedlich, jedenfalls nicht in dem, was sie füreinander empfanden. Er spürte ihre weichen Hände in seinen, als er ihr sagte, was ihm schon den ganzen Tag im Kopf herumging. »Mich hat neulich jemand aus London angerufen, ein Mann namens Lorant.«
    Dolly nickte aufmunternd.
    »Er ist dabei, eine Zeitschrift zu gründen. Sie soll Picture Post heißen – ein Magazin, das Bilder veröffentlicht, die eine Geschichte erzählen. Er hat meine Fotos im Telegraph gesehen, und er hat mich gefragt, ob ich nach London gehen und für ihn arbeiten will, Doll.«
    Er wartete darauf, dass sie vor Glück jubelte und mit ihm durch die Gasse tanzte. Von einer solchen Chance hatte er schon lange geträumt, schon seit er die alte Kamera seines Vaters und das Stativ auf dem Dachboden gefunden hatte und den Karton mit den sepiafarbenen Fotografien. Aber Dolly rührte sich nicht. Ihr Lächeln war plötzlich wie erstarrt. »London?«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Du gehst nach London?«
    »Ja. Du weißt schon, großer Palast, große Uhr, viel Rauch und Ruß.«
    Er versuchte zu scherzen, aber Dolly lachte nicht; sie blinzelte ein paarmal, dann atmete sie tief aus und fragte: »Wann?«
    »Im September.«
    »Um dort zu leben?«
    »Und zu arbeiten.« Jimmy stockte; irgendetwas stimmte nicht. »Für ein Fotomagazin«, sagte er unsicher, dann runzelte er die Stirn. »Doll?«
    Ihre Unterlippe zitterte, und er fürchtete, sie würde anfangen zu weinen.
    »Doll?«, fragte Jimmy bestürzt. »Was ist los?«
    Sie weinte nicht. Sie breitete die Arme aus, dann legte sie die Hände an die Wangen. »Aber wir wollten doch heiraten.«
    »Was?«
    »Du hast gesagt … und ich dachte … aber jetzt …«
    Sie war sauer auf ihn, und Jimmy hatte keine Ahnung, warum. Sie gestikulierte mit beiden Händen und redete wirr drauflos, etwas von einem Bauernhaus und ihrem Vater und einer Fahrradfabrik. Jimmy versuchte vergeblich, ihr zu folgen. Als sie schließlich einen tiefen Seufzer ausstieß, die Hände in die Hüften stemmte und ihn so erschöpft, so empört anschaute, fiel ihm nichts Besseres ein, als sie in die Arme zu nehmen und ihr übers Haar zu streicheln, wie er es vielleicht mit einem trotzigen Kind gemacht hätte. Das hätte auch nach hinten losgehen können, deswegen musste er lächeln, als er spürte, wie sie sich entspannte.
    »Ich dachte, du wolltest mich heiraten«, sagte sie schließlich und schaute ihn an. »Stattdessen gehst du jetzt nach London.«
    Jimmy musste lachen. »Nicht stattdessen , Doll. Mr. Lorant wird mich bezahlen, und ich werde so viel sparen, wie ich kann. Natürlich will ich dich heiraten – was glaubst du denn? Ich möchte nur sicherstellen, dass ich es richtig mache.«
    »Aber es ist doch alles richtig, Jimmy. Wir lieben uns, wir wollen zusammen sein. Denk nur an das Bauernhaus – an die vielen Hühner, an die Hängematte, und wie wir zwei barfuß auf der Wiese tanzen …«
    Jimmy lächelte. Er hatte Dolly erzählt, dass sein Vater auf einem Bauernhof aufgewachsen war, er hatte ihr die Abenteuergeschichten erzählt, die ihn als kleiner Junge begeistert hatten, aber sie hatte sie ausgeschmückt und zu ihren eigenen Geschichten gemacht. Er bewunderte

Weitere Kostenlose Bücher