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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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es, wie sie mit ihrer uner schöpflichen Fantasie die simpelsten Dinge in wunderbare Zauberwelten verwandeln konnte. Jimmy legte ihr eine Hand an die Wange. »Das Bauernhaus kann ich mir noch nicht leisten, Doll.«
    »Dann nehmen wir eben einen Zigeunerwagen. Mit Gänseblümchengardinen. Und nur ein Huhn … oder vielleicht zwei, damit sie sich nicht einsam fühlen.«
    Er konnte nicht anders: Er küsste sie. Sie war so jung, sie war so romantisch, und sie gehörte ihm. »Es dauert nicht mehr lange, Doll, dann werden wir all das haben, wovon wir träumen. Ich werde hart arbeiten – du wirst schon sehen.«
    Zwei Möwen flogen kreischend über die Gasse hinweg. Jimmy fuhr ihr zärtlich mit den Fingern über den sonnengebräunten Arm. Sie ließ es zu, dass er ihre Hand nahm, und er drückte sie fest an sich, während er sie zum Strand zurück begleitete. Er liebte Dollys Träume, ihre ansteckende Begeisterung; noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt wie jetzt. Aber es lag an ihm, einen kühlen Kopf zu bewahren, was ihre gemeinsame Zukunft anging. Es war nicht ratsam, dass sie sich beide von Träumen und verrückten Einfällen leiten ließen, das würde zu nichts Gutem führen. Er, Jimmy, war nicht unintelligent, das hatten ihm alle Lehrer bestätigt, als er noch zur Schule ging, bevor es mit seinem Vater bergab ging. Und er lernte schnell; inzwischen hatte er sich fast durch den gesamten Bestand der Leihbibliothek gelesen. Das Einzige, was ihm gefehlt hatte, war eine gute Gelegenheit, und jetzt wurde sie ihm geboten.
    Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis die Promenade vor ihnen auftauchte, auf der zu dieser nachmittäglichen Stunde besonders reges Treiben herrschte.
    Jimmy blieb stehen, nahm Dollys andere Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Also dann«, sagte er leise.
    »Also dann.«
    »Wir sehen uns in zehn Tagen.«
    »Ja. Ich kann’s kaum erwarten.«
    Jimmy lächelte und beugte sich vor, um ihr zum Abschied einen Kuss zu geben, aber in dem Augenblick rannte ein Kind vorbei, um einen Ball zurückzuholen, der in die Gasse gerollt war, und der Zauber war dahin. Er richtete sich wieder auf, seltsam verlegen.
    Dolly zeigte mit dem Kinn in Richtung Promenade. »Ich muss langsam zurück.«
    »Pass auf dich auf, okay?«
    Sie lachte, dann küsste sie ihn mitten auf den Mund. Mit einem Lächeln, das ihm das Herz höherschlagen ließ, rannte sie in die Sonne. Der Saum ihres Kleids wippte um ihre nackten Beine.
    »Doll!«, rief er hinter ihr her, kurz bevor sie verschwand. Sie drehte sich um, und die Sonne in ihrem Rücken ließ ihr Haar wie einen Heiligenschein aufleuchten. »Du brauchst keine teuren Kleider, Doll. Du bist tausendmal schöner als die junge Frau in der Strandhütte.«
    Sie strahlte – zumindest hatte er den Eindruck, im Gegenlicht war es schwer zu erkennen –, dann winkte sie zum Abschied und lief davon.
    Nach der vielen Sonne, den Erdbeeren und dem Dauerlauf zum Bahnhof, um seinen Zug zu erwischen, schlief Jimmy fast die ganze Rückfahrt über. Er träumte von seiner Mutter; es war derselbe Traum, der seit Jahren immer wiederkehrte. Sie waren auf dem Jahrmarkt, sie und er, saßen in einer der Buden und sahen sich die Darbietung eines Zauberkünstlers an. Der Zauberer hatte seine hübsche Assistentin soeben in die Kiste eingesperrt (die auffallend den Särgen ähnelte, die sein Vater im Erdgeschoss, in den Räumen von » W. H. Metcalfe & Sons, Bestatter und Spielzeughersteller« baute), als seine Mutter sich zu ihm beugte und sagte: »Gleich versucht er, dich dazu zu bringen, dass du woanders hinsiehst, Jim. Es kommt nur darauf an, das Publikum abzulenken. Schau nicht weg.« Jimmy, ungefähr acht Jahre alt, nickte ernst und riss die Augen auf, um nur ja nicht zu blinzeln, obwohl sie nach einer Weile so sehr tränten, dass es wehtat. Aber irgendetwas musste er falsch gemacht haben, denn plötzlich schwang die Kiste auf, und die Frau war – schwupp! – verschwunden, ohne dass Jimmy irgendetwas mitbekommen hatte. Seine Mutter lachte, und ihm wurde ganz komisch zumute, er fror und hatte Pudding in den Knien, und als er sich zu ihr hindrehte, saß sie nicht mehr neben ihm. Auf einmal war sie in der Kiste und sagte ihm, er hätte wohl geträumt, und ihr Parfüm war so stark, dass …
    »Die Fahrkarten, bitte!«
    Jimmy fuhr aus dem Schlaf und griff automatisch nach seinem Rucksack, den er auf dem Platz neben sich abgestellt hatte. Er war noch da, Gott sei Dank. Wie dumm von ihm,

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