Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ihm auf Abenteuerreise gehen.«
»Wirst du auch da sein, Mummy?«
Dorothys Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen, wie es manchmal passierte, als würde sie Erinnerungen nachhängen, die sie traurig machten. Doch dann hatte sie gelächelt und Laurels Haar zerzaust. »Natürlich werde ich da sein, Mäuschen. Oder hast du etwa gedacht, ich würde dich allein auf Reisen gehen lassen?«
In der Ferne kündigte ein Spätzug seine Einfahrt in den Bahnhof an. Laurel seufzte. Der Pfiff schien von den Wänden widerzuhallen, und sie überlegte, ob sie den Fernseher einschalten sollte, um für eine gewisse Geräuschkulisse zu sorgen. Aber ihre Mutter hatte sich immer geweigert, sich ein neues Gerät mit Fernbedienung zuzulegen, und so schaltete Laurel das alte Radio ein, suchte BBC Radio 3 und nahm ihr Buch zur Hand.
Es war ihr zweiter Henry-Jenkins-Roman, Die widerspenstige Muse , und wenn sie ehrlich war, fand sie ihn ziemlich langatmig. Allmählich gewann sie überdies den Eindruck, dass Jenkins ein ziemlicher Chauvi gewesen sein musste. Zumindest hatte seine Hauptfigur – Humphrey, ein ebenso unwiderstehlicher Typ wie der Protagonist des ersten Romans – ein ziemlich fragwürdiges Frauenbild. Bewunderung war ja gut und schön, aber er schien seine Frau Viola als seine persönliche Jagdtrophäe zu betrachten, eine Art Naturkind, das er eingefangen und mit nach London gebracht hatte, um es zu zivilisieren, das aber gleichzeitig auf keinen Fall von der Großstadt »korrumpiert« werden durfte. Laurel seufzte. Sie wünschte, Viola würde kurzentschlossen ihre edlen Röcke raffen und so schnell wie möglich davonlaufen.
Das tat sie natürlich nicht; sie willigte in die Ehe mit dem Helden ein – schließlich war es Humphreys Geschichte. Anfangs war Laurel die junge Frau sympathisch gewesen, sie schien eine würdige Heldin zu sein, temperamentvoll und lebenslustig, aber je weiter sie las, umso weniger blieb von dieser Frau übrig. Aber vermutlich tat Laurel dem Autor unrecht: Seine Protagonistin war noch jung und musste natürlich Fehlent scheidungen treffen dürfen. Und was wusste Laurel denn schon? Keine ihrer Beziehungen hatte länger als zwei Jahre gehalten. Trotzdem entsprach Violas Ehe mit Humphrey nicht dem, was Laurel sich unter einer romantischen Liebesgeschichte vorstellte. Sie hielt es noch zwei Kapitel lang durch, in deren Verlauf das Paar nach London zog, wo Viola in ihren goldenen Käfig gesperrt wurde, dann wurde es Laurel zu dumm, und sie klappte das Buch frustriert zu.
Es war zwar erst kurz nach neun, aber Laurel fand, dass es spät genug war. Sie war viel unterwegs gewesen und war müde, und am nächsten Morgen wollte sie früh aufstehen, um zeitig im Pflegeheim zu sein, wenn ihre Mutter, so hoffte sie, noch ansprechbar war. Roses Mann, Phil, der eine Autowerkstatt betrieb, hatte ihr einen Mini, einen Oldtimer aus den Sechzigerjahren, vor die Tür gestellt, grün wie ein Grashüpfer, sodass sie in die Stadt fahren konnte, wann immer sie wollte. Ihr Buch unter den Arm geklemmt, spülte sie ihren Teller ab, dann ging sie nach oben und überließ das dunkle Erdgeschoss von Greenacres den Gespenstern.
»Sie haben Glück«, begrüßte die mürrische Krankenschwester Laurel am nächsten Morgen, und so, wie sie es sagte, klang es wie ein Unglücksfall. »Sie ist aufgestanden und gut beieinander. Die Feier letzte Woche hat sie ziemlich erschöpft, wissen Sie, aber Verwandtschaftsbesuch tut den Patienten immer gut. Versuchen Sie einfach, sie nicht allzu sehr aufzuregen.« Dann lächelte sie ohne eine Spur von Warmherzigkeit und konzentrierte sich wieder auf ihr Klemmbrett, das sie vor sich hielt.
Laurel wandte sich ab und ging den in Beige gehaltenen Korridor hinunter. Leise klopfte sie an die Zimmertür. Als von drinnen keine Reaktion kam, machte sie die Tür leise auf. Dorothy saß in einem Sessel, den Kopf gesenkt und von der Tür abgewandt, und Laurel dachte zuerst, sie schliefe. Erst als sie auf Zehenspitzen näher ging, sah sie, dass ihre Mutter etwas betrachtete, das sie in den Händen hielt.
»Hallo Ma«, sagte Laurel.
Die alte Frau zuckte zusammen und blickte auf. Ihr Blick war ein wenig getrübt, aber sie lächelte, als sie ihre Tochter erkannte. »Laurel«, sagte sie leise. »Ich dachte, du wärst in London.«
»War ich auch. Ich bin für eine Weile zurückgekommen.«
Ihre Mutter fragte sie nicht, warum. Vielleicht, dachte Laurel, hörte man irgendwann im Alter einfach auf, Fragen zu
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