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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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schenken, die er liebte und mit der er eine eigene Familie gründen würde. Einer Frau, die ihn niemals verlassen würde.
    Als Junge hatte Jimmy seine Mutter angebetet. Sie war seine erste große Liebe, der große, helle Mond, dessen Kommen und Gehen seinen Lebensrhythmus bestimmte. Sie hatte ihm immer eine Geschichte erzählt, wenn er nicht einschlafen konnte, erinnerte er sich jetzt. Sie handelte von einem Zauberschiff, der Nachtwind , einer großen, alten Galeone mit breiten Segeln und einem starken Mast, die durch das Meer des Schlafs segelte, Nacht für Nacht, auf der Suche nach Abenteuern. Seine Mutter hatte bei ihm auf der Bettkante gesessen, ihm über den Kopf gestreichelt und ihm Geschichten von dem Schiff erzählt, von wundersamen Reisen, und nichts hatte ihn so sehr beruhigen können wie ihre Stimme. Und erst wenn er fast eingeschlafen war und mit dem Schiff auf den großen Stern im Osten zusteuerte, beugte sie sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Gute Reise, mein Schatz. Wir sehen uns heute Nacht auf der Nachtwind . Wartest du auf mich? Wir beide werden ein großartiges Abenteuer erleben.«
    Lange Zeit hatte er das geglaubt. Nachdem sie mit dem anderen Mann fortgegangen war, diesem reichen Mann mit der sanften Stimme und dem teuren Auto, hatte er sich die Geschichte jeden Abend selbst erzählt, überzeugt, dass er ihr im Schlaf begegnen würde, dass er sie in den Arm nehmen und zurück nach Hause führen könnte.
    Er hatte geglaubt, dass er niemals eine andere Frau so sehr würde lieben können. Und dann hatte er Dolly kennengelernt.
    Jimmy drückte seine Zigarette aus und schaute auf seine Uhr; kurz vor fünf. Er sollte sich jetzt lieber auf den Weg machen, wenn er rechtzeitig zu Hause sein wollte, um seinem Vater ein Ei zum Frühstück zu braten.
    So leise er konnte, stand er auf, zog seine Hose an und machte seinen Gürtel zu. Einen Moment lang blieb er stehen, um Dolly zu betrachten, dann hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns auf der Nachtwind «, flüsterte er. Sie rührte sich im Schlaf, wachte jedoch nicht auf. Jimmy lächelte.
    Er schlich die Treppe hinunter und hinaus in den frostigen, grauen Londoner Morgen. Schnee lag in der Luft, er konnte es riechen, und beim Gehen bildeten sich weiße Atemwölkchen, aber Jimmy fror nicht. Nicht an diesem Morgen. Dolly Smitham liebte ihn, sie würden heiraten, und alles würde gut werden.

13
    Greenacres, 2011
    A ls Laurel sich an den Tisch setzte, ein Abendessen vor sich, das aus Baked Beans auf Toast bestand, wurde ihr bewusst, dass sie wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben allein in Greenacres war. Keine Eltern, die im Nebenzimmer herumkramten, keine aufgekratzten Schwestern, die im ersten Stock die Bodendielen quietschen ließen, kein kleiner Bruder, keine Haustiere. Nicht einmal eine Henne draußen im Hühnerstall. Laurel lebte allein in London, wie meistens im Lauf der vergangenen vierzig Jahre. Sie war gern allein. Aber jetzt, umgeben von den Geräuschen und Bildern ihrer Kindheit, empfand sie eine Einsamkeit, deren Ausmaß sie verwunderte.
    »Bist du sicher, dass das für dich in Ordnung ist?«, hatte Rose am Nachmittag gefragt, bevor sie gefahren war. Sie hatten in der Diele gestanden, und Rose, unschlüssig, ob sie gehen sollte, hatte ihre lange Halskette aus afrikanischen Perlen befingert und mit einer Kopfbewegung in Richtung Küche gezeigt. »Also, ich könnte noch bleiben, wenn du möchtest. Es würde mir nichts ausmachen. Vielleicht sollte ich das wirklich tun. Ich rufe Sadie kurz an und sage ihr, dass ich es nicht schaffe.«
    Es war eine ungewohnte Situation, dass Rose sich um Laurel sorgte, und Laurel war ganz verwirrt gewesen. »Unsinn«, hatte sie gesagt, vielleicht ein bisschen zu unwirsch, »das wirst du nicht tun. Ich komme sehr gut allein zurecht.«
    Rose war nicht überzeugt. »Ich weiß nicht, Lol, es … es passt einfach nicht zu dir, aus heiterem Himmel anzurufen. Normalerweise bist du immer so wahnsinnig beschäftigt, und jetzt …« Die Kette drohte jeden Augenblick zu reißen. »Weißt du was? Ich rufe Sadie an und schlage ihr vor, dass wir die Verabredung auf morgen verschieben. Es ist wirklich kein Problem.«
    »Rose, bitte«, sagte Laurel mit filmreifer Theatralik. »Tu mir um Himmels willen den Gefallen und fahr zu deiner Tochter. Ich hab dir doch gesagt, ich bin nur hier, um vor den Dreharbeiten zu Macbeth ein bisschen auszuspannen. Ehrlich gesagt freue ich mich auf die Ruhe und den

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