Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Frieden hier.«
Und das stimmte sogar. Laurel war Rose dankbar, dass sie es hatte einrichten können, sie am Haus zu erwarten, um ihr die Schlüssel zu übergeben, aber ihr schwirrte der Kopf, weil sie an nichts anderes denken konnte als daran, was sie bereits über die Vergangenheit ihrer Mutter wusste und was sie noch in Erfahrung bringen musste, und sie wollte einfach nur allein sein und Ordnung in ihre Gedanken bringen. Als Rose schließlich davonfuhr, hatte Laurel ihr nachgeschaut, bis der Wagen am Ende der Einfahrt in die Straße einbog. Sofort ergriff sie eine sonderbare Aufregung. Es war, als würde etwas ganz Neues beginnen. Endlich war sie hier; sie hatte es geschafft. Sie hatte sich vorübergehend von ihrem Londoner Leben verabschiedet, um dem Familiengeheimnis auf den Grund zu gehen.
Aber als sie jetzt allein im Wohnzimmer saß, vor sich einen leeren Teller und eine lange Nacht, geriet ihre Gewissheit ins Wanken. Sie wünschte, sie hätte Roses Angebot nicht so kategorisch abgelehnt; das arglose Geplapper ihrer Schwester war genau das richtige Mittel gegen düstere Gedanken. Das Problem waren die Gespenster, denn natürlich war sie keineswegs ganz allein. Die Gespenster waren überall: Sie versteckten sich in allen Ecken, huschten die Treppe auf und ab, tapsten über Badezimmerfliesen; kleine barfüßige Mädchen in Trägerkleid chen, aber auch die große, hagere Gestalt ihres Dads, der irgend wo im Dunkeln vor sich hinpfiff; vor allem aber Ma, die überall zugleich war – sie war dieses Haus namens Greenacres, hatte es mit ihrer Leidenschaft und Energie verkörpert, jede Holzdiele, jede Fensterscheibe, jeden einzelnen Stein.
Jetzt gerade befand sie sich in der Zimmerecke – Laurel sah, wie sie ein Geburtstagsgeschenk für Iris einpackte. Es war ein Buch über die Steinzeit, ein Kinderlexikon. Laurel erinnerte sich, wie ergriffen sie damals von den Illustrationen in dem Buch gewesen war, geheimnisvollen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von längst versunkenen Orten. Laurel war richtig eifersüchtig gewesen, als Iris es am nächsten Morgen auf dem Bett der Eltern ausgepackt und angefangen hatte, darin zu blättern, und voller Besitzerstolz das Lesebändchen an eine andere Stelle gelegt hatte. Es gab Bücher, die weckten Neugier und das unwiderstehliche Verlangen, sie zu besitzen, vor allem bei Laurel, die damals nicht viele eigene Bücher gehabt hatte.
Bei ihnen zu Hause hatte es nie viele Bücher gegeben – es wunderte die Leute immer, wenn sie das hörten –, aber trotzdem hatte es nie an Geschichten gefehlt. Ihr Vater hatte beim Abendessen stets irgendwelche Anekdoten zum Besten gegeben, und Dorothy Nicolson war die Sorte Mutter, die ihren Kindern selbst ausgedachte Geschichten erzählte, anstatt ihnen welche vorzulesen. »Habe ich dir schon mal von der Nachtwind erzählt?«, hatte sie einmal gefragt, als Laurel noch klein war und nicht schlafen wollte.
Laurel hatte begierig den Kopf geschüttelt. Sie mochte die Geschichten ihrer Mutter.
»Wirklich nicht? Na, dann wundert mich nichts mehr. Ich habe mich schon immer gefragt, warum ich dich dort eigentlich nie treffe.«
»Wo denn, Mummy? Was ist denn die Nachtwin d ?«
»Na, sie ist der Weg nach Hause, mein Schatz. Und sie ist der Weg dorthin.«
Laurel war verwirrt. »Wohin denn?«
»Überallhin …« Dann hatte sie gelächelt, auf ihre besondere Weise, die Laurel immer glücklich gemacht hatte, in ihrer Nähe zu sein, und hatte sich noch weiter vorgebeugt, als wollte sie ihr ein Geheimnis verraten, wobei ihr dunkles Haar nach vorn fiel. Laurel liebte es, Geheimnisse anvertraut zu bekommen; und sie konnte sie sehr gut für sich behalten. Sie hörte also gut zu, als ihre Mummy sagte: »Die Nachtwind ist ein großes Schiff, das jeden Abend vom Ufer des Schlafs ablegt. Hast du schon mal ein Bild von einem Piratenschiff gesehen, mit geblähten Segeln und Strickleitern, die im Wind schaukeln?«
Laurel nickte erwartungsvoll.
»Dann wirst du das Schiff erkennen, wenn du es siehst, denn genauso sieht es aus. Es hat den höchsten Mast, den du dir vorstellen kannst, und obendran weht eine Flagge aus silbernem Stoff, mit einem weißen Stern und zwei Flügeln in der Mitte.«
»Und wie komme ich auf das Schiff? Muss ich schwimmen?« Laurel war keine besonders gute Schwimmerin.
Dorothy lachte. »Das ist das Beste daran. Du brauchst es dir nur zu wünschen, und wenn du heute Abend einschläfst, wirst du dich auf dem warmen Deck des Schiffs befinden und mit
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