Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Ma? An dem Tag, als wir Gerrys Geburtstag gefeiert haben?« Ihre Brust fühlte sich an wie eingeschnürt. Plötzlich war sie wieder sechzehn.
Ihre Mutter klammerte sich immer noch an ihren Ärmel, das Gesicht aschfahl, die Stimme brüchig. »Er hat mich gefunden, Laurel … Er hat nie aufgehört, nach mir zu suchen.«
»Wegen dem, was du im Krieg getan hast?«
»Ja.« Kaum hörbar.
»Was war es, Ma? Was hast du getan?«
Die Tür ging auf, und Schwester Ratched kam mit einem Tablett herein. »Mittagessen«, verkündete sie forsch und brachte den Rolltisch vor Dorothy in Position. Sie füllte die Plastiktasse mit lauwarmem Tee und vergewisserte sich, dass noch Wasser in der Karaffe war. »Klingeln Sie einfach, wenn Sie fertig sind«, sagte sie viel zu laut. »Dann komme ich und helfe Ihnen aufs Klo.« Sie warf noch einen prüfenden Blick auf den Tisch. »Brauchen Sie sonst noch etwas, bevor ich gehe?«
Dorothy war wie benommen, erschöpft. Sie sah die Frau fragend an.
Die Schwester lächelte freundlich und beugte sich fast bis zu Dorothys Gesicht vor. »Brauchen Sie noch irgendetwas?«
»Oh.« Dorothy blinzelte und lächelte so verschüchtert, dass es Laurel fast das Herz brach. »Ja. Ja. Ich muss mit Dr. Rufus sprechen …«
»Dr. Rufus? Sie meinen Dr. Cotter .«
Eine dunkle Wolke der Verwirrung huschte über ihr blasses Gesicht, dann sagte sie: »Ja.« Und mit einem noch schwächeren Lächeln: »Natürlich, Dr. Cotter.«
Die Schwester versprach, ihn so bald wie möglich vorbeizuschicken, drehte sich zu Laurel um und tippte sich mit einem vielsagenden Blick an die Schläfe. Laurel widerstand dem Impuls, der Frau, deren weiche Schuhsohlen auf dem Fußboden quietschten, an die Gurgel zu gehen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Schwester endlich ging: Sie sammelte leere Tassen ein, notierte etwas auf dem Krankenblatt, unterbrach ihre Arbeit, um eine Bemerkung über den anhaltenden Regen zu machen. Als die Tür endlich hinter ihr zuging, konnte Laurel nicht länger an sich halten.
»Ma?«, sagte sie schärfer als beabsichtigt.
Dorothy Nicolson schaute ihre Tochter an. In ihrem Gesicht lag ausdruckslose Gelassenheit. Es traf Laurel wie ein Schlag, als sie erkannte, dass das, was vor der Unterbrechung so stark ans Licht gedrängt hatte, nicht länger da war. Es hatte sich wieder an den Ort zurückgezogen, wo alte Geheimnisse aufbewahrt wurden. Laurel war so frustriert, dass ihr fast die Luft wegblieb. Natürlich hätte sie noch einmal fragen können: »Was hast du denn getan, dass der Mann hinter dir her war? Hatte es etwas mit Vivien zu tun? Sag es mir, bitte«, aber das geliebte Gesicht, das müde alte Gesicht schaute sie voller Verwunderung an, und dann fragte ihre Mutter mit einem besorgten Lächeln: »Ja, Laurel?«
Mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte – morgen war auch noch ein Tag, dann würde sie es noch einmal versuchen –, erwiderte Laurel das Lächeln und fragte: »Soll ich dir beim Essen helfen, Ma?«
Dorothy aß nicht viel; die letzte halbe Stunde hatte an ihren Kräften gezehrt, und Laurel fiel erneut auf, wie gebrechlich sie war. Der grüne Sessel, den Laurel von zu Hause mitgebracht hatte, war durchaus nicht besonders wuchtig; Laurel hatte ihre Mutter über die Jahre unzählige Male darin sitzen sehen. Aber irgendwie hatte der Sessel in den vergangenen Monaten seine Proportionen verändert, denn jetzt schien ihre Mutter in dem Möbelstück regelrecht zu versinken.
»Ich könnte dir doch mal die Haare bürsten«, schlug Laurel vor. »Was meinst du?«
Ein Lächeln huschte über Dorothys Lippen, und sie nickte. »Meine Mutter hat mir immer die Haare gebürstet.«
»Wirklich?«
»Ich hab immer so getan, als könnte ich es nicht ausstehen. Ich wollte unabhängig sein. Aber in Wirklichkeit mochte ich es sehr.«
Lächelnd nahm Laurel die museumsreife Haarbürste vom Regal hinter dem Bett; während sie sanft den weißen Pusteblumenflaum kämmte, versuchte sie sich vorzustellen, wie ihre Mutter als kleines Mädchen gewesen war. Bestimmt abenteuerlustig, manchmal frech, aber so voller Lebhaftigkeit, dass alle sie gemocht hatten. Wahrscheinlich würde Laurel das nie erfahren, es sei denn, ihre Mutter erzählte es ihr.
Dorothy waren die Augen zugefallen, und die hauchfeinen Nerven in ihren papierdünnen Lidern zuckten leicht – wer konnte schon wissen, welche rätselhaften Bilder sich auf der Netzhaut darunter formten. Ihr Atem ging immer ruhiger, während Laurel ihr weiter das
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