Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
stellen, weil man seit Jahren erleben musste, dass man so vieles nicht mehr richtig mitbekam oder falsch verstand, und weil die meisten Entscheidungen ohnehin bereits getroffen waren. Was für unerquickliche Aussichten, dachte Laurel. Sie schob den Rolltisch aus dem Weg und setzte sich auf den mit Plastik bezogenen Stuhl. »Was hast du denn da?« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das, was ihre Mutter im Schoß hielt. »Ist das ein Foto?«
Dorothys Hand zitterte, als sie Laurel den kleinen, versilberten Bilderrahmen hinhielt. Er war alt und ein bisschen verbeult, aber frisch poliert. Laurel konnte sich nicht erinnern, diesen Rahmen schon einmal gesehen zu haben. »Von Gerry«, sagte ihre Mutter. »Ein Geburtstagsgeschenk für mich.«
Es war das perfekte Geschenk für Dorothy Nicolson, die Schutzpatronin aller ausrangierten Gebrauchsgegenstände, und das war typisch Gerry. Gerade wenn er jeden Bezug zur Welt verloren zu haben schien, gelang ihm manchmal ein Akt von erstaunlicher Einfühlsamkeit. Der Gedanke an ihren Bruder versetzte Laurel einen Stich: Nachdem sie sich entschlossen hatte herzukommen, hatte sie ihm auf dem Anrufbeantworter seines Uni-Telefons eine Nachricht hinterlassen – drei, um genau zu sein; in der letzten am späten Abend, mit einer halben Flasche Rotwein intus, war sie ziemlich konkret geworden. Sie hatte ihm mitgeteilt, sie sei in Greenacres, entschlossen herauszufinden, was vorgefallen war, »als wir Kinder waren«, dass ihre Schwestern nichts davon wüssten und sie seine Hilfe brauche. Sie hatte geglaubt, das Richtige zu tun, aber er hatte sich nicht gemeldet.
Laurel setzte ihre Lesebrille auf. »Eine Hochzeit«, sagte sie, während sie die förmlich gekleideten Fremden auf dem sepiafarbenen Foto betrachtete. »Aber niemand, den wir kennen, oder?«
Ihre Mutter beantwortete ihre Frage nicht, jedenfalls nicht direkt. »So etwas Kostbares«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Er hat es auf dem Flohmarkt gefunden … Ist es nicht traurig, was die Menschen alles weggeben?«
Laurel stimmte ihr zu. »Ein schönes Foto«, sagte sie, während sie mit dem Daumen über die Glasscheibe fuhr. »Im Krieg aufgenommen, nach den Kleidern zu urteilen. Aber er trägt keine Uniform.«
»Nicht alle trugen Uniform.«
»Du meinst, es gab auch Drückeberger?«
»Es gab auch andere Gründe.« Dorothy nahm das Bild wieder an sich. Sie betrachtete es eine Weile, dann stellte sie es mit zitternder Hand neben ihr eigenes Hochzeitsfoto.
Dass der Krieg so zufällig zum Thema geworden war, erschien Laurel wie ein Geschenk des Himmels, eine unerwartete Gelegenheit. Einen besseren Moment konnte es nicht geben, um auf die Vergangenheit ihrer Mutter zu sprechen zu kommen. »Was hast du eigentlich im Krieg gemacht, Ma?«, fragte sie, um einen beiläufigen Tonfall bemüht.
»Ich war beim Frauenfreiwilligendienst.«
Einfach so. Kein Zögern, kein Widerstreben. Laurel blieb am Ball. »Du meinst, du hast Socken gestrickt und für Soldaten Essen ausgeteilt?«
Ihre Mutter nickte. »Wir haben im Kellergewölbe einer Kirche eine Kantine eingerichtet. Wir haben Suppe ausgeteilt … Manchmal auch auf der Straße.«
»Wirklich? Mitten im Bombenhagel?«
Ein angedeutetes Nicken.
»Ma …« Laurel fehlten die Worte. Sie war verblüfft über die Antwort, darüber, überhaupt eine Antwort erhalten zu haben. »Du warst sehr mutig.«
»Nein«, entgegnete Dorothy überraschend scharf. Ihre Lippen zitterten. »Es gab viel mutigere Menschen.«
»Davon hast du noch nie erzählt.«
»Nein.«
Warum nicht? , hätte Laurel sie am liebsten gefragt. Sag es mir . Warum war das so ein großes Geheimnis? Henry Jenkins und Vivien, die Kindheit ihrer Mutter in Coventry, die Kriegsjahre, bevor sie Laurels Vater kennengelernt hatte … Was war passiert? Was hatte dazu geführt, dass ihre Mutter so wild entschlossen war, ein neues Leben zu beginnen, dass sie zu einer Frau geworden war, die den Mann hatte töten können, der drohte, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen? Stattdessen sagte sie: »Ich wünschte, ich hätte dich damals gekannt.«
Dorothy lächelte vage. »Das wäre schwierig gewesen.«
»Du weißt, was ich meine.«
Ihre Mutter veränderte ihre Sitzposition, ihr Gesichtsausdruck wirkte plötzlich gequält. »Ich glaube nicht, dass ich dir sehr sympathisch gewesen wäre.«
»Wie meinst du das? Warum denn nicht?«
Dorothys Lippen zuckten, als wollten die Worte, die sie sagen wollte, nicht
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