Die Verlorenen von New York
ohnehin den Verdacht, dass Bri nur dann etwas aß, wenn er danebensaß und aufpasste. »Julie und ich kommen schon klar.«
»Und warum gehen wir nicht zur Schule?«, fragte Julie.
»Wir ziehen um«, sagte Alex.
»Aber wir können doch nicht einfach umziehen!«, rief Bri. »Wie sollen uns Mamá und Papá und Carlos dann finden?«
»Wir legen ihnen einen Zettel hin«, sagte Alex. »Auf den Tisch, wo sie ihn auf jeden Fall finden. Und wir ziehen gar nicht weit weg. Nur nach oben, in Apartment 12 B .«
»Was ist denn mit dieser Wohnung nicht in Ordnung?«, fragte Julie. »Unsere ganzen Sachen sind hier.«
»Ich weiß«, sagte Alex. Er hatte die halbe Nacht damit verbracht, sich zu überlegen, nach welchem System sie all die Sachen, die sie aus den anderen Wohnungen geholt hatten, zu 12 B raufschaffen sollten. Ganz zu schweigen von ihrer Kleidung und den Lebensmitteln. »Deshalb ziehen wir ja auch gleich morgen um. Mittwochs gibt es meist ziemlich lange Strom, dann können wir die Sachen mit dem Fahrstuhl hochbringen. Als Erstes bringen wir Bri nach oben, dann packen wir hier unten alles ein und fahren damit rauf. Bri kann uns die Türen aufhalten und so was.«
»Ich kann doch auch beim Ausladen helfen«, sagte Bri.
»Nein«, sagte Alex. »Du darfst nicht so schwer heben. Wir schaffen das auch ohne dich.«
»Warum hast du nicht wenigstens mal mit uns gesprochen, bevor du so was entscheidest?«, fragte Julie. »Und warum ausgerechnet 12 B ? 14 J hat ein Zimmer mehr.«
»Weil die beiden aus 12 B uns mal angeboten haben, ihre Wohnung zu übernehmen«, sagte Alex. »Bei denen müssen wir wenigstens kein schlechtes Gewissen haben. Du und Bri, ihr teilt euch das Schlafzimmer, und ich kann im Wohnzimmer schlafen. Da gibt’s bestimmt auch ein Schlafsofa, und wenn nicht, dann holen wir eben eine Matratze aus einer der anderen Wohnungen. Das wird schon gehen.«
»Was immer du für richtig hältst«, sagte Bri. »Ich würde mich nur gern ein bisschen nützlich machen.«
»Du kannst uns beim Einräumen helfen«, sagte Alex. »Die Lebensmittel in die Schränke packen und so. Keine Sorge, Bri, du kriegst schon was zu tun.«
»Meinst du, wir werden hier bald überflutet?«, fragte Julie beharrlich weiter. »Müssen wir deshalb nach oben ziehen?«
Alex nickte. »Das wird nicht mehr lange dauern«, sagte er. »Und je eher wir unsere Sachen hier rausschaffen, desto besser. Zumal wir nicht wissen, wie lange es überhaupt noch Strom gibt – ich habe keine Lust, das ganze Zeug irgendwann die Treppen raufzuschleppen. Also ziehen wir morgen um.«
Bri lächelte. »Ich habe jeden Abend gebetet, dass ihr noch hier seid, wenn ich nach Hause komme«, sagte sie. »Aber mein Zuhause ist vielleicht nicht unbedingt diese Wohnung hier, sondern der Ort, an dem auch ihr beide seid.«
»Wir ziehen ja auch nicht richtig weg«, sagte Alex. »Nur zwölf Etagen höher.«
Mittwoch, 5 . Oktober
Alex bat Gott und seinen Vater um Vergebung, als er den ersten Nagel einschlug, um die doppelt gelegten Decken, die sie zur Wärmedämmung brauchten, vor den Fenstern von Apartment 12 B zu befestigen.
»Na toll«, grummelte Julie. »Da ziehe ich endlich mal in eine Wohnung mit Aussicht, und dann darf ich doch nicht rausgucken.«
Montag, 10 . Oktober
»Kannst du mir vielleicht mal helfen, anstatt nur rumzustehen?«, fragte Kevin. Der Springer war in einer merkwürdigen Position gelandet, mit seltsam verdrehtem Körper, und Kevin hatte Mühe, ihm die Schuhe auszuziehen.
Alex machte sich an dem einen Schuh zu schaffen, während Kevin an dem anderen zerrte. »Ich hasse diese Leichenstarre«, murrte Kevin. »Aber was tut man nicht alles für seine Mutter.«
»Du musst sie ziemlich gernhaben«, sagte Alex. »Ich tu das hier, weil wir sonst verhungern würden. Aber du tust das nur für ihren Wodka.«
»Ihr braucht Essen, sie braucht Wodka«, sagte Kevin, der den Schuh jetzt endlich losbekam. Angewidert versetzte er der Leiche einen Tritt und machte sich gleich auf die Suche nach der nächsten. »Außerdem hab ich das Gefühl, ich bin es ihr schuldig.«
»Wieso?«, fragte Alex.
»Sie ist meine Mutter«, sagte Kevin. »Ich möchte nicht, dass das die Runde macht, aber ich war früher Bettnässer. Und meine Mutter hat nie mit mir geschimpft oder mir das Gefühl gegeben, ich wäre böse oder es wäre meine Schuld. Wenn ich jetzt also ein bisschen Mehraufwand betreiben muss, damit sie bekommt, was sie braucht, dann tue ich das gern. Aber wenn du irgendwem
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