Die Verlorenen von New York
sowieso nicht mehr viele Mädchen übrig, deswegen haben sie einen Teil der Schwestern woanders hingeschickt. Aber wir haben unsere eigenen Räume. Du wirst mich überhaupt nicht zu sehen kriegen, Alex, versprochen. Und wir werden auch nicht in der Cafeteria essen, sondern im Klassenzimmer. Es tut mir leid.«
»Mir auch«, sagte Alex. »Ich weiß, wie sehr du an deiner Schule hängst.« Er dachte daran, wie sorgfältig dieses Geheimnis bewahrt worden war. Anscheinend hatte nicht einmal Kevin davon gewusst, dass die Mädchen an die Vincent de Paul wechseln würden.
»Nicht so wichtig«, sagte Julie. »Ist doch jetzt eh nichts mehr wichtig.«
Und Alex hatte nicht die Kraft, ihr zu widersprechen.
Montag, 17 . Oktober
Vor der Messe hielt Pater Mulrooney den Jungen noch einen strengen Vortrag darüber, dass die Schülerinnen der Mädchenschule ihre Gäste seien und sie sich ihnen gegenüber distanziert, aber höflich verhalten sollten. Die Mädchen würden im zweiten Stock des Gebäudes untergebracht, während die Kurse der Jungen in den beiden unteren Etagen stattfänden. Den beiden Schulen stehe zu unterschiedlichen Zeiten die Kapelle und die Bibliothek zur Verfügung, wobei die Morgenmesse für die Schüler der Vincent de Paul weiterhin obligatorisch sei.
Seit der siebten Klasse, als er auf der Vincent de Paul Academy angefangen hatte, war Alex nicht mehr mit Mädchen zur Schule gegangen. Keine Mädchen in der Nähe zu haben hatte ihm dabei geholfen, sich auf das zu konzentrieren, was ihm wirklich wichtig war: seine Zensuren, seine schulischen Ämter, seine Zukunft. Natürlich hätte er gern eine Freundin gehabt, und er kannte viele Jungen an seiner Schule, die mit einem Mädchen von der Holy Angels High School zusammen waren oder sogar mit einer, die auf eine staatliche Schule ging. Aber von diesen Jungen musste sich auch keiner irgendwelche Sorgen um seine Zukunft machen. Sie konnten sich die Ablenkung erlauben.
Letztes Frühjahr, so erinnerte er sich, hatte Chris ihn einmal gefragt, ob er Lust hätte, als Double-Date zum Holy-Angels-Schulball mitzukommen. Eine Freundin von Chris’ Freundin hatte gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht und suchte kurzfristigen Ersatz.
Samstagabends hatte Alex immer bei Joey gearbeitet. Aber statt Chris das einfach zu erklären, hatte er lieber gesagt, sein Vater sei zu einer Beerdigung nach Puerto Rico geflogen und sie wüssten nicht genau, wann er zurück wäre. Eine lächerliche Ausrede, aber Chris hatte sie akzeptiert und ihm sein Beileid ausgesprochen.
Der Schulball war also für jenen Samstag geplant gewesen, an dem sein Vater eigentlich hätte wiederkommen sollen. Höchstwahrscheinlich war er abgesagt worden. Und all der Neid und die Verbitterung, die Alex empfunden hatte, waren ganz ohne Grund gewesen.
Freitag, 28 . Oktober
Alex war gerade auf dem Weg zur Cafeteria, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Als er sich umwandte, stand Tony vor ihm.
»Ich dachte, das könntet ihr vielleicht gebrauchen«, sagte Tony und hielt ihm eine kleine braune Papiertüte hin.
»Was ist da drin?«, fragte Alex.
»Ersatzpatronen für Bris Inhalator«, sagte Tony. »Ich hatte noch welche übrig, und da dachte ich, ich geb euch ein paar ab.«
»Danke«, sagte Alex.
»Kein Problem«, antwortete Tony – was, wie Alex vermutete, ebenfalls gelogen war, aber er war zu dankbar, um Fragen zu stellen.
Montag, 31 . Oktober
»Hast du Tony meine kleine Dankesnotiz überbracht?«, fragte Bri, als Alex und Julie von der Schule nach Hause kamen.
»Klar, hab ich«, sagte Alex. Das war gelogen, denn Tony hatte sich den ganzen Tag nicht blickenlassen. Beim Nachzählen während der Messe hatte Alex festgestellt, dass ein weiteres Dutzend Schüler verschwunden war. Vielleicht würden einige im Lauf der Woche wiederauftauchen, aber er bezweifelte es. Weg war weg. Aber das wollte er Bri nicht erzählen, weil es ihr so wichtig gewesen war, sich bei Tony zu bedanken. Lieber lügen, als sie aus der Ruhe zu bringen.
»Morgen ist Allerheiligen«, sagte er. »Ich dachte, wir drei könnten vielleicht zusammen zur Messe gehen.«
»Oh, das wäre schön«, sagte Bri. »Danke, Alex.«
»Muss ich mit?«, fragte Julie. »Kannst du mich nicht erst zur Schule bringen und dann zur Messe gehen?«
»Aber morgen ist ein Feiertag«, sagte Bri. »Mit Mamá sind wir zu Allerheiligen auch immer zur Messe gegangen.«
»Ich weiß«, sagte Julie. »Aber ich möchte lieber am Mittwoch zur Messe gehen, zu Allerseelen.
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