Die Vermessung der Frau
Zweifel zum Anlass, um hier die Indifferenz der Moderne zu verorten.
»Die Metapher des Zuhause-Seins in der Welt ist recht alt. (...) Zuhause ist das Gewohnte – irgendein Ort, von dem man nun einmal aufbricht, und zu dem man zurückkehren kann, ohne Fragen beantworten zu müssen. Anscheinend ist das eine Metapher, die gut zu den abgeschwächten Erwartungen passt. Nicht mehr nach himmelragenden Türmen steht uns der Sinn; zu beweisen, dass wir in jener Kette des Seins leben, deren Glieder allesamt den Ruhm Gottes bezeugen, haben wir längst aufgegeben. Wir wollen nur noch die Sicherheit, dass wir irgendwo zu Hause sind. Das Fehlen einer derartigen Sicherheit ist eine Signatur der Moderne.« (Susan Neiman, Das Böse denken, S. 443)
Das philosophische Verschwinden der sichtbaren und gemeinsam wahrgenommenen Welt zeigt sich im Wachsen des Unsichtbaren.
Was groß war, wird klein, was klein war, wird plötzlich mächtig. Interessanterweise kompensieren wir Menschen dann die überall feststellbaren Entkörperlichungen mit einer klischeehaften Inszenierung des Körpers. Das heißt: Je mehr realiter Menschen als echte Menschen mit all ihren unregelmäßigen Formen harmonisiert werden und somit in ihrer Eigenart eigentlich verschwinden, weil sie sich anpassen müssen, umso stärker werden dann medial die Menschen und hier insbesondere die Frauen als Abziehbilder inszeniert.
Es gibt einen Film, der die Absurdität dieser Vorgänge besonders gut verdeutlicht. Er heißt »The Truman Show«. In ihm wird ein Menschenleben inszeniert. Ständig von 5.000 Kameras – unsichtbar für ihn – gefilmt und von Schauspielern umgeben, »lebt« der Versicherungsvertreter Truman Burbank sein Leben als Fernsehshow, ohne es »wirklich« zu merken. Dieser Kamerablick ist nun vielen modernen Menschen nicht mehr fremd. Statt wirklich zu leben, bilden sie sich ständig und wie im Wahn ab und stellen diese Bilder dann auf ihre facebook-Seite, als ob sie dadurch ein Leben dokumentieren könnten, das sie vor lauter Fremdbildern gar nicht mehr wirklich erlebt haben. Sondern sie sehen sich nur noch im Bild.
Die Ursache für diese Veränderung ist das Teleskop. Zunächst eine Veränderung in der Betrachtung, dann aber überall, vor allem im Hinblick auf Raum und Zeit. Ohne Teleskop auch kein Einstein und keine Relativitätstheorie. Erst das Teleskop machte den Satz des Philosophen Immanuel Kant vernünftig:
»Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinung möglich. Diese können insgesamt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit),
kann nicht aufgehoben werden.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B46/A 30-B46/A31, 5715)
Es ist eben alles in der Zeit, das die Zeit umfasst, wie schon Aristoteles sagte. Zeit ist deshalb nie ohne Raum. Ohne Raum gibt es auch keine Zeit. Es gibt nur die Raumzeit, was bedeutet, dass die Betrachtung sowohl Raum als auch Zeit gestalten kann. Damit ist mit dem Teleskop auch der Konstruktivismus geboren.
Was in punkto Raum und Zeit bei Physikern freudige Aktivität auslöst und inspirierend ist, nimmt bei den Menschen gleichzeitig schreckliche und brillante Formen an. Mit Ort und Zeit werden auch alle Werte relativ. Das klingt nur auf den ersten Blick gut. Auf den zweiten Blick entblößen sich somit alle Fratzen dieser Welt, die erst noch behaupten, alle gleich gültig zu sein. Denn wenn es keine kommunikative Verständigung in Glaube, Ethik, Moral, Politik gibt, dann ist alles relativ. Alles ist gleich gültig. Nur das Messinstrument gibt Auskunft.
Vergleichen wir die moderne Welt mit den Welten, die wir aus der Vergangenheit kennen, so fällt auf, dass alle bisherigen Werte, die Gesellschaften für sich und künftige Generationen definiert haben, schon längst völlig unsicher geworden sind. Modern betrachtet ist die Erde kein Mittelpunkt und der Himmel kein Paradies mehr, die Hölle schon längst erkaltet und das menschliche Leben auf die Zeit zwischen Geburt und Tod fixiert.
Für den Menschen heißt das: Obwohl der Mensch selbst nicht relativ ist, schließlich lebt er ja noch, ist alles um ihn herum relativ. Er kann eventuell auch in den Augen anderer Menschen völlig relativ, gleichgültig
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