Die Vermessung der Frau
es die Weltanschauung nicht nur physikalisch, sondern grundsätzlich. Durch seinen Gebrauch verändern sich auch die Köpfe der Menschen.
Wenn schon das Teleskop Himmel und Erde völlig anders zeigt als bisher angenommen, weshalb sollte es dann nicht auch alle bisher angenommenen menschlichen und göttlichen Beziehungen anders zeigen?
Damit beginnt menschliche Unsicherheit und Unbeständigkeit. Was ist denn nun wirklich, was nicht? Wenn die Erde schon eine Kugel ist und ich nicht runterfliege, was soll ich denn noch glauben? Der Himmel ist schließlich nicht nur über, sondern ebenso oft unter mir respektive um mich herum. Von einem Tag auf den anderen werden absolute Sicherheiten erschüttert. Selbstverständlich dauert es noch 500 Jahre, bis die Auswirkungen dieser Entdeckungen verdaut sind. Das Teleskop bringt eine Erschütterung.
»So besteht die neuzeitliche Philosophie seit Descartes in der begrifflichen Erfassung und mannigfachen Artikulierung eines nicht weniger ursprünglichen Zweifels daran, dass irgend etwas so ist, wie es ist, bzw. in der Frage, ob überhaupt etwas ist, aus der schließlich die von Leibniz zuerst formulierte Grundfrage der neuzeitlichen Metaphysik hervorbricht: »Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?” Warum gibt es eher etwas als nichts? Das Nichts ist doch einfacher und leichter als das Etwas. (...) Die Philosophen begriffen sofort, dass die Entdeckung Galileis nicht einfach das Zeugnis der Sinne antastete, (...) sondern dass einem von Menschen hergestelltes Instrument, dem Teleskop, die Änderung des Weltbilds zuzuschreiben ist.« (Hannah Arendt, Vita Activa, S. 348)
Seit Kopernikus und Descartes sind die Instrumente moderner Vernunft ziemlich zweischneidig. Einerseits bringen sie materielle
Sichtbarkeit und Sicherheit, andererseits gebären sie gleichzeitig auch nie endenden Zweifel. Ist denn die Welt, wie sie ist? Oder fehlen nur weitere Instrumente, die uns Menschen zeigen könnten, dass die Welt, wie wir sie verstehen, ganz anders ist als bisher angenommen? Die Entdeckung Galileis »und sie dreht sich doch ...« ist eben nicht nur ein weiterer Erkenntnisschritt, sondern bewirkte eine grundlegende Änderung des Weltbildes. Fortan ist auf den Menschen kein Verlass mehr. Objektiv, unabhängig, scharf im Sehen sind von nun an nur noch die Instrumente. Instrumente sehen vieles, das den Menschen nicht sichtbar ist.
Mit dem Teleskop ist der Mensch als Geschöpf der Krise geboren.
Das Teleskop ist also voller metaphysischen Tricks, die sich hinter einem völlig gewöhnlichen Instrument verstecken. Danach ist die Welt nicht mehr, was sie war. Sie ist auf die Größe eine Planeten geschrumpft, kleiner Teil eines großen Ganzen, des Universums. Das Ganze als Inbegriff aller Teile – dieser Begriff entsteht gleichzeitig mit dem Teleskop.
Mit der Erforschung des Himmels zieht sich langsam auch Gott vor die Zeit des Teleskops zurück. Er oder sie ist gewissermaßen etwas instrumentenschwach und damit unmodern geworden.
Doch je mehr seine oder ihre Macht schwindet, umso stärker etablieren sich die weltlichen und kirchlichen Kräfte. Fast so, als wollen sie die »Schwäche« Gottes mit Glaubenseifer und Wahrheitsbehauptungen kompensieren! Eigentlich ist es ja absurd. Da bringt das Teleskop neuere wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, und wie reagieren die weltlichen und kirchlichen Herren? Sie beginnen verbissen, um ihre – und nur um ihre – Wahrheit zu kämpfen! Gerade so, als ob sie durch Morden, Brandschatzen und Plündern den mit dem Teleskop in die Welt getretenen Zweifel ausrotten könnten!
Nicht nur Gott ist instrumentenschwach geworden, sondern auch der Mensch. Der Mensch könnte – wie alles in der Natur – durchaus nur eine vorübergehende Zeiterscheinung oder Schwankung in der Evolution sein. Ungefähr so wie die Dinosaurier, die zunächst den Planeten bevölkerten, dann während Jahrhunderten als Drachen durch die Mythen geisterten und schließlich im 20. Jahrhundert in Film, Dokumentation oder Science-Fiction wiederauferstanden. Ähnliches könnte auch dem Mensch passieren. Denn seit dem Teleskop ist nichts mehr ausgeschlossen.
Wo nur vorläufige Wahrheiten als Wahrscheinlichkeiten regieren, sind Überraschungen ebenso vorstellbar wie nichts.
Vor lauter Unsicherheit weigern sich deshalb viele Menschen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie weigern sich, die menschliche Urteilskraft anzuwenden. Die Philosophin Susan Neiman nimmt diesen
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