Die Vermessung der Frau
Alternativen mehr. Doch ein Leben ohne Vielfalt und Veränderung ist eher ein Gefängnis als die moderne Versprechung der Freiheit.
Die technischen Wissenschaften reden heute in einer mathematischen Symbolsprache. Wenn sie diese übersetzen, in Bilder fassen, wird die Macht nur repliziert statt diskutiert, was ja auch bei der Finanzkrise zu spüren war. Da wurden schlechte Kredite in mathematische Formel gepackt und mit einem ausgeklügelten System uns Menschen dann als gültige Luxuspakete verkauft.
Sehen Sie, wie irrsinnig solche Mechanismen mittlerweile geworden sind?
Aus Formeln schafft man sich keine Welt, die den Menschen und ihrer Sprache gerecht wird, weil Formeln Regeln voraussetzen, die sich Menschen zuerst via Verständigung geben wollen. Daher stammt auch das große Unbehagen vieler älteren Frauen. Denn sie werden mehr und mehr wie Kleidungsstücke behandelt, die man in die Altkleidersammlung gibt.
Meine Freundin Gisela, eine wunderbare Theaterautorin, hörte von ihrem Intendanten, dass er ihr neues Theaterstück zwar außerordentlich wichtig, spannend, gut geschrieben, lustig und interessant finde, dass er sie aber unmöglich »hypen« könne und deshalb auf das Stück verzichten müsse. »Hypen«? Wen denn und was denn? Gisela galt dem Intendanten als Person nicht genügend vermarktbar. Er verzichtete also auf Worte,
Sprache, auf ein spannendes Theaterstück, weil die Autorin den biologischen Regeln, wer Theaterstücke veröffentlichen darf, nicht mehr entsprach.
»Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann. Es mag Wahrheiten geben, die jenseits des Sprechenden liegen, und sie mögen für den Menschen, sofern er auch im Singular, d. h. außerhalb des politischen Bereichs im weitesten Verstand, existiert, von größtem Belang sein. Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selber sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.« (Hannah Arendt, Vita Activa, S. 12)
Die Unsicherheit, die Dynamik von Ort und Zeit verunsichert alle Menschen. Selbst die, die nicht darüber nachdenken oder nur, wie die diversen Dschungelcampteilnehmer, blubbern, realisieren: Irgendwas läuft verdammt schief. Hier wäre eine großangelegte Diskussion und ständiger Widerspruch gegen Zahlen, Quoten und Ratings wichtig. Doch stattdessen werden Talkrunden über die Ergebnisse dieser absurden Herrschaft der Zahlen inszeniert, statt die Ursachen zu erforschen.
Nochmals: Wenn Menschen sich nur noch mit ihrem Körper beschäftigen, ist dies nicht »normal«, sondern Ausdruck einer großen Verunsicherung, was der Mensch denn noch ist außer Körper. Anorexie, Bulimie, Dysmorphia (gestörtes Körperbild) haben tiefgehende philosophische und politische Ursachen, und die Prävention könnte darin bestehen, von Vermessungsmodellen und dieser Zahlenideologie Abstand zu nehmen. Doch auch an unseren Fachhochschulen und Universitäten findet das Denken immer weniger unter Menschen statt, sondern wird Maschinen überlassen und in Zahlen und Rechenmodelle verpackt. Sie ahnen gar nicht, wie sehr sich die jungen Studentinnen
und Studenten mit irgendwelchen Kreditpunkten herumschlagen müssen, grad so, als wären sie Schuldner bei einer Bildungsbank! Das hat mit der Aufklärung und dem humanistischen Bildungsideal nun wirklich nichts mehr zu tun.
In unserer globalen Welt verstärkt sich der Trend von Sprachen weg zu sogenannten objektiven Zahlen. Ist ja klar: Politiker und Politikerinnen aller Welt können Bilanzen lesen, selbst wenn sie kein einziges Wort Neugriechisch sprechen. Dass sie damit aber oft den Kern der Probleme verkennen und den Menschen schaden, zeigt die Eurokrise deutlicher als jede andere politische Krise, die wir in den letzten Jahren durchlebten. Doch hey: Zahlen können alle Fremdsprachen, da sie nur in ein und derselben Logik sprechen. Sehen Sie, wie seltsam das ist?
Die Menschen sind deshalb zum Messen, zum Sehen und zum Beobachten schon fast verdammt. Dabei bleibt jede Ethik und Menschlichkeit auf der Strecke. Rechnungen konstruieren ein System ohne Sinn und menschliche Urteilskraft. Deshalb sind auch Marktgesetze – genau wie Rechnungen – ohne Moral. Wie diese beziehen sich Marktgesetze nur auf eine Relation, die als absolut gesetzt wird. Mit menschlicher Vernunft, Urteilskraft,
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