Die Vermessung der Frau
Bekanntwerden des gesamten Erdballs, sondern auch die anscheinend unbegrenzte und immer noch fortschreitende Akkumulierung von Reichtümern auf der Erde an Bedeutung in den Schatten stellte.« (Hannah Arendt, Vita Activa, S. 319)
Wie bitte? Sie sehen, Hannah Arendt zu veranschaulichen ist gar nicht so einfach! Also: Das Teleskop verändert zunächst den Blick des Menschen. Dies nicht nur in eine Richtung, sondern es erschüttert alles, was der Mensch bisher zu wissen, zu sehen, zu denken und zu glauben wagte.
Was vor dem Teleskop »normalen« Menschen ein Sonnenuntergang war, entpuppt sich nach dem Teleskop als reine Illusion und Erdrotation. Was vor dem Teleskop ein Fixpunkt war, ist nun ständig in Bewegung.
Nicht nur das. Die Bewegung geht von einem selbst aus, respektive von einer Erde, die sich nicht nur bewegt, sondern zu allem Erstaunen auch noch rund ist!
Was vor dem Teleskop als Anfang galt, ist nach dem Teleskop nur eine vorläufige Annahme.
Denn schließlich ist der Morgen an der griechischen Küste des Mittelmeeres schon längst Abend in Tokio.
Was vor dem Teleskop noch Sprache war, weicht nach dem Teleskop dem Zählen, Messen und Beobachten.
Wirklich zuverlässig ist fortan der Blick der Menschen nur noch und ausschließlich dank einer Rechenmaschine.
Sehr verehrte Leserinnen und Leser: Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie diese Sätze. Nicht nur, weil es einige Zeit gekostet hat, diese auf die Reihe zu bringen – kritisches Denken und Hinschauen ist alles andere als einfach –, sondern weil sie ganz wichtige Entwicklungen der Moderne anschaulich zeigen. Mit dem genauen Messen und Berechnen tritt gleichzeitig der Zweifel an allem in die Welt. Spannend, nicht?
Das Teleskop bringt den Menschen gleichzeitig die Relativität aller Betrachtungen wie auch die Genauigkeit aller physischen Erscheinungen.
Die Welt wird vermessen, damit aber auch das dazugehörige Weltbild. Denn der Welt als Scheibe entsprechen auch »Scheiben-Denkvorstellungen«.
DIE WELT ALS SCHEIBE
Dass offensichtlich solch »alte« Scheibenbild-Vorstellungen falsch sind, wissen wir mittlerweile dank der »echten« und »wirklichen« Bilder. Wir vergessen meistens, dass diese »falschen« Bilder in ihrer Zeit und für die damaligen Menschen völlig stimmig waren. Nur ab und zu beschleicht uns der polemische Gedanke, dass eventuell Generationen nach uns ebenso
laut über die heute von den Wissenschaftlern produzierten Bilder lachen werden, falls ihnen das Lachen vor lauter Buchstaben und Zahlen nicht schon längst sprichwörtlich im Hals oder im Reagenzglas steckengeblieben ist. Denken Sie nur einmal an alte Science-Fiction-Filme aus den 1960er oder 1970er Jahren! Raumschiff Enterprise (Star Trek) ist ein sprechendes Zeitdokument dafür, wie Menschen sich die Welt vorstellten. Selbst wenn schon vor über 40 Jahren alle meinten, sie seien vor allem wissenschaftlich, sehen wir an jedem Set, an jeder Kleidungsform, an jeder Schauspielergeste die Kultur, die Bildarbeit der 1970er Jahre. So sehen wir auch, wie die sogenannte objektive Wissenschaftswelt sich immer Formen der herrschenden Politik bedient. Das Frauenbild der 1970er Jahre in den Serien spricht Bände über den Macht-Zusammenhang genau der Zeit.
Wie die Welt aussieht, spielt eben nicht nur real, sondern auch in der Vorstellung und den Bildern eine wichtige Rolle. Die Vermessung der Welt erobert so die Formen der Welt, der Kultur und der Menschen.
Unendlichkeit wird zum Zahlenmodell und hat somit eigentlich ausgedient. Damit auch die unendliche Fantasie, die Vielfalt, wie Menschen auch noch sein könnten. Der Mensch beginnt bei Null und endet mit den Jahreszahlen.
Solche Rechenverhältnisse beenden zugegebenermaßen früher oder später auch die klassischen menschlichen Erfahrungsgeschichten wie Heilung, Seele, Glaube, Unsterblichkeit. Diese fehlenden Erfahrungen werden nun mit ausgeklügelten Zahlenmodellen sowie technischen Fortschritten kompensiert. Der Mensch beginnt zwar nun bei Null, schreitet aber in Richtung Unsterblichkeit und in neue technische und universelle Dimensionen weiter. Alles hat eben Vor- und Nachteile – so erschreckend nüchtern das auch klingen mag.
Das Teleskop verändert also nicht nur die physischen, sondern vor allem auch die philosophischen Betrachtungsweisen der Welt. Damit verändert es auch alle Werte. Das Teleskop funktioniert
nämlich ohne Moral. Es ist von Menschen unabhängig. Es hat keine eigenen Sinne. So verändert
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