Die Vermessung der Frau
und unwichtig sein. Ein unangenehmer Gedanke. Ein Gedanke, der für eine liebevolle Gemeinschaft unter Menschen nicht wirklich förderlich ist.
Das weiß ein Denker, der als ziemlich schräger Maskenträger und als der Begründer der Moderne gilt: René Descartes. Wenn
schon alles außer Zahlen und Messungen nur vorläufige Wahrheiten sind, dann steht einfach alles in Zweifel. Der Typ ist diesbezüglich radikal und sagt sofort: »De omnibus dubitandum est«: Alles steht im Zweifel. Nun ist nichts mehr sicher. Weder vor diesem Satz, noch vor Descartes, noch vor dieser welterschütternden Einsicht.
Descartes ist der Philosoph, der nicht gerne redet und am liebsten eine Maschine wäre. Mit ihm erobert der Zweifel nun die Welt.
Die einzig gültige Gegenstrategie zum Zweifel besteht im Vermessen, Wiegen, Schauen, Zählen oder – im religiösen Kontext – im Behaupten. Eine ziemlich stumme und banale Angelegenheit, die jedoch – überhaupt nicht banal – das Gesicht der Welt und die Gesichter der Menschen radikal verändert hat. Ohne Teleskop, ohne Descartes, ohne Zweifel kein technischer Forschritt, keine industrielle und keine kommunikative Revolution.
Der Zweifel beginnt also sein geniales Treiben in der modernen Welt. Die Welt wird von nun an nicht mehr von Menschen diskutiert, konstruiert, verändert, angenommen, verworfen, gedacht, sondern hey: Sie wird vermessen. Schließlich gelten die Zahlen in Zeiten der Unsicherheit als das einzig Verlässliche. Zudem zeigt die Politik – und mit ihr die Menschen – unpräzise Irrationalitäten. Die menschliche Vernunft dauert viel länger als ein neues Rechenmodell, deshalb wollen die Vermesser dieser Welt alles berechnen, kalkulieren und kontrollieren. Dieser Prozess ist schon sehr weit fortgeschritten oder, Hand aufs Herz: Haben Sie sich nicht auch schon unglaublich über die ständigen Umfragen zu Wahlen geärgert? Statt dass wir über Wahlprogramme und die Menschen diskutieren, die diese ausführen sollten, unterhalten sich die Medienverantwortlichen ständig über Umfragewerte.
Wie absurd Herrschaft und Ohnmacht aussieht in einer Regelgesellschaft, die ihren eigenen Gesetzen genügt, zeigt Peter
Greenaway in seinem Film »Drowning by numbers« von 1988, der aus seltsamen Gründen auf Deutsch »Die Verschwörung der Frauen« heißt. Im Film ertränken drei Frauengenerationen ihre jeweiligen Ehemänner, doch dreht sich alles um das surreale Spiel eigensinniger Zahlenlogik. Mit einem makabren, fatalistischen Schluss nimmt Peter Greenaway das Thema der Werterelativität auf: Das menschliche Dasein ist durch keine Regeln, schon gar nicht durch numerische geschützt. »Drowning by numbers« ist ein kaleidoskopischer Film, der viele Themen so aufgreift, dass sie zur Diskussion, zu Widerspruch und zum Weiterdenken anregen. Einmal mehr zeigt darin der Filmemacher Greenaway, wieviel er von Philosophie, dem Spiel zwischen Fiktion und Realität versteht, welches er in berauschende Bilder umsetzt. »Drowning by numbers« ist eine schöne Zusammenfassung für meine Gegenwartsanalyse, die vor allem im Zählen statt im Denken besteht.
Der Raum, einmal gezählt, die Zeit, einmal erfasst, verkleinert sich von Tag zu Tag und zerrinnt von Sekunde zu Sekunde. Die Welt ist kleiner geworden. Plötzlich geht alles unglaublich schnell. So schnell, dass die größten Einheiten schon längst nicht mehr vorstellbar und die kleinsten Einheiten noch nicht entdeckt sind. Der Zeitphilosoph Rosa erzählt spannend, wie sehr wir in einer beschleunigten Welt stecken, aus welcher wir manchmal kaum richtig herausfinden.
Dieser Dynamik der technischen Entwicklung hält die Sprache nicht stand. Mit der sprachlichen Krise treten ernsthafte politische Krisen in die Welt.
Menschen brauchen Sprache – vor allem Frauen, denn ihnen sagt man ja häufig ein besonders starkes Redebedürfnis nach. Durch Reden begreifen Menschen die Welt. Sie können mit Worten Zusammenhänge herstellen und Geschichten erzählen. Deshalb wäre es eigentlich besser, die Technik nicht einfach auf die Menschen loszulassen, sondern sie mit Sprache
auch begreiflich zu machen. Täte man dies, wären bestimmte Techniken wohl von Anfang an in ihrer Dimension und in ihrer schwerwiegenden ethischen Wirkung klarer. Doch im Moment hecheln die Menschen mit ihrer Sprache aller technischen Entwicklung ohnmächtig hinterher. Deshalb können dann Politikerinnen und Politiker von Sachzwängen reden, so als hätten Menschen keine
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