Die Vermessung der Lust (German Edition)
Hobbys stets, sie wolle sich vielleicht einmal dem Synchronschwimmen widmen, weil sie gerne allein sei. Damit erntete sie regelmäßige Lacher von Leuten, die es sich als eine komische Nummer vorstellten, wenn das bewusste und das unbewusste Ich gymnastische Verrenkungen in Schwimmbädern veranstalteten.
Aus dem Wohnzimmer kamen jetzt die vertrauten gedämpften Stimmen und Musikfetzen. Konrad sah fern, es war ihm gleichgültig, was gerade lief. Madeleine sank zurück in ihren Schlummer, Wirklichkeit und Traum rangelten ein paar Minuten miteinander, am Ende würde sie traumlos weiterschlafen, bis der Wecker klingelte.
Morgen kam dieser Mann, ein unattraktives Exemplar seiner Gattung. Sie war gespannt. Hatte sie Konrad jemals als attraktiv empfunden? Oh ja. Irgendwie beruhigend eben, ganz nett. Sie war immer gerne mit ihm zusammengewesen, obwohl oder weil sie sich nicht viel zu sagen hatten. So etwas verflog nicht wie die körperliche Attraktivität.
Ihre bisherigen Forschungen hatten eindeutig ergeben, dass die Anziehungskraft des Mannes auf die Frau (und umgekehrt galt dies noch in viel höherem Maße) zunächst physischer Natur war. Der Charakter spielte keine Rolle, vielleicht, wenn er die Frau zum Lachen bringen konnte, aber auch das hatte eher marginale Bedeutung. Zuneigung war eine exponential ansteigende Kurve, die an einem bestimmten Punkt verflachte. Jetzt zeigte sich, ob die physischen Faktoren durch psychische abgelöst wurden oder nicht. Bemerkenswert war, dass dieser Prozess bei einigen Paaren schleichend, bei anderen abrupt eintrat. Entweder gewann also der Charakter des Mannes die Oberhand oder die Frau sagte sich, wenn er schon nicht mehr attraktiv ist, so denke ich wenigstens, dass er ein netter Kerl ist.
Warum dies so war, musste noch näher erforscht werden. Aber nicht jetzt. Madeleine war wieder eingeschlafen. Konrad hockte hellwach vor dem Fernseher und sah die Wiederholung einer Quizshow, deren Kandidaten so blöd waren, dass sie den Unterschied zwischen Elektrik und Eklektik nicht kannten.
Große Erwartungen
Silvio Bergengruen zögerte. Was er im Spiegel erblickte, sich nämlich, gefiel ihm heute Morgen nicht. An die nächtliche Verwirrung seines spärlichen Haarkranzes hatte er sich inzwischen gewöhnt. Die Haare streckten sich widerspenstig in alle Richtungen, was aber nicht uninteressant war und ihn trotz Mittlerer Reife wie einen Gelehrten – Einstein? - wirken ließ. Aber die Nase. Da gab es diesen Pickel, der kein Pickel war, jedenfalls konnte man ihn nicht aufdrücken. Er sah aus wie eine vorübergehende Hautunreinheit, hatte sich jedoch als fester Bestandteil der Nase entpuppt, ein illegaler ständiger Gast an Herrn Bergengruens Körper. Nun ja, er würde sich einen Abdeckstift besorgen müssen.
Ach was, einfach ignorieren das Ding! Machte ihn vielleicht noch interessanter. Wenn man älter wird, wenn das Hemd über dem Bauch spannt und die Haare selbst mit Zuckerwasser sich nicht mehr quer über die Glatze kämmen lassen, muss Mann mit anderen Dingen punkten. Einem Pickel zum Beispiel, der keiner ist, sondern so etwas wie eine Narbe. Frauen standen auf Narben, das wusste Bergengruen, sie verliehen einem Mann einen Anflug von bestandener Gefahr, von Schmerz und Überleben, sie waren sichtbare Zeichen dafür, dass dieser Mann gelebt und nicht nur friedlich dahinvegetiert hatte. Bergengruen hatte lediglich eine Blinddarmnarbe zu bieten, die er Frauen gerne zeigte. Aber Cora, mit der er gewöhnlich aufs Zimmer ging (wenn sie nicht gerade anderweitig belegt war), kannte die Narbe inzwischen in- und auswendig.
Heute war ein besonderer Tag. Die Sache mit dem Experiment, der freundliche junge Mann aus dem vierten Stock hatte ihn angesprochen, ob er nicht Lust habe, daran teilzunehmen, es gehe um die Wirkung von Männern auf Frauen, Genaueres wusste Bergengruen nicht. Aber er wusste, dass Frauen zunächst einmal an seinem Vornamen hängenblieben. Silvio, das klang italienisch und Bergengruen hatte die Geschichte mit der italienischen Großmutter erfunden. Dabei stammten seine Vorfahren mütterlicherweise allesamt aus dem Erzgebirge, sein Vater hatte in Essen vierzig Jahre bis zur Staublunge unter Tage malocht. Was nun keine der Frauen zu wissen brauchte und auch noch nie eine hatte wissen wollen, bis auf Nele vielleicht, Nele, »rassiges Teenie mit hammermäßiger Oberweite, auch AV und NS gegen Aufpreis«.
Der nette junge Mann aus dem vierten Stock also. Hieß er nicht Lars oder Jens
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