Die Vermessung der Lust (German Edition)
Paar.
Mitten in der Nacht erwachte sie, weil Konrad in seiner Schlaflosigkeit damit begonnen hatte, das Haus zu durchwandern. Er drückte die Klinke der Hintertür, vergewisserte sich, dass sie abgeschlossen war. Das übliche quietschende Geräusch. Mit den Jahren war seine Angst vor Einbrechern gewachsen, vor Eindringlingen generell und wenn es nur Handwerker waren, die die Heizung kontrollierten. Dieses Haus hatten sie gleich nach der Hochzeit gekauft, es war ihr Nest.
Seit etwa fünf Jahren schliefen sie nicht mehr miteinander, ein Umstand, den beide nur am Rande registriert hatten. Madeleine vermisste den Sex so wenig wie die Lust auf Schokolade, der sie früher hemmungslos frönen konnte, um dann eines Tages festzustellen, Schokolade mache dick und träge und abhängig. Sie hatte es einfach seinlassen.
Sex eben. Er regulierte den Hormonhaushalt, wenn auch nur für kurze Zeit und provisorisch. Er sorgte für Nachwuchs, wenn man es unbedingt darauf anlegte und Knauss-Ogino nicht für eine japanische Punkband hielt. Sie hatten es nie darauf angelegt. Allein die Vorstellung eines sich neun Monate lang aufblähenden Bauches war Madeleine schlimmer vorgekommen als ein Vampirfilm, den sie sich kurz vor dem Zubettgehen ansehen musste.
Eine glückliche Ehe ist eine Ehe, in der man sich gegenseitig weder vermisst noch bewusst wahrnimmt. Alles andere ist Verliebtheit oder Routine, zwei Zustände, die mehr miteinander gemein hatten als man sich eingestehen will. So wie die linke Hand die rechte weder dauernd streichelt noch wirklich vermisst. Sie ist einfach da, beide Hände greifen ineinander und verrichten die Dinge des täglichen Lebens. So war es immer gewesen.
Sie hatten geheiratet, ohne viel darüber zu reden, Madeleine ihr Studium beendet, ohne es durch weitere Ferienjobs finanzieren zu müssen. Sie mochte es, die Ehefrau eines einigermaßen erfolgreichen Mannes zu sein und Konrad mochte es, seine junge Frau an Sonntagnachmittagen durch den Stadtpark zu führen, wo er Schulfreunden begegnete, die das blühende Wesen an seiner Seite neidisch betrachteten und sich vorstellten, wie aufregend die Nächte mit einer so jungen Frau sein mussten, die nicht der üblichen Hitzewallungen wegen die Bettdecke im Schlaf wegstrampelte.
Eine kurze Zeit lang waren diese Nächte tatsächlich aufregend gewesen. Mit siebundzwanzig hatte Madeleine ihren ersten Orgasmus erlebt. Als sie ihn kommen spürte, dachte sie unwillkürlich an Freud und seine These von Eros und Thanatos, dem Lebens- und dem Todestrieb, die Pole der Existenz, so weit voneinander entfernt und doch so nahe beieinander. Würde sie auf dem Höhepunkt wirklich ans Sterben denken? Sie wartete. Der Orgasmus kam, aber als er schließlich mit seiner ganzen Wucht über Madeleine hereinbrach, dachte sie nur: »Oh mein Gott«.
Gut, darin konnte man mit einiger Phantasie einen konkreten Bezug zum Sterben erkennen. Wer an Gott denkt, denkt an das Leben danach, aber wie Madeleine am nächsten Morgen in ihr Studientagebuch notierte, bedeutete »Oh mein Gott« eher so etwas wie »Ach du Scheiße, was ist denn das«.
Sie besprach das Thema Wochen später mit ihrem Doktorvater, dem ebenso gütigen wie impotenten Professor Schärf, der ihr einmal anvertraut hatte, kein Orgasmus sei so nachhaltig wie der, den man nur in der Phantasie erleide. Nein, erklärte Schärf, das habe Freud mit Eros und Thanatos nicht gemeint, sie solle die entsprechenden Passagen noch einmal akribisch studieren. Sie hatte es nicht getan. Die Arbeit an ihrer Dissertation mit dem Titel: »Milieubedingte Normabweichungen bei befühlskalten Frauen« forderte ihren zeitlichen Tribut und weil Madeleine niemals vorhatte, in die Politik zu gehen, schrieb sie ihre Doktorarbeit selbst.
Diese Phase sexueller Vollendung hatte nicht länger als ein paar Monate gedauert und war von Konrad unbemerkt geblieben, da es sich Madeleine zur Angewohnheit gemacht hatte, bei Konrads regelmäßigen Orgasmen etwas lauter zu stöhnen. Danach definierte Madeleine Orgasmus als die Anwesenheit eines etwa zehn Minuten währenden guten Gefühls in der Magengegend. Nur noch einmal dachte sie »Oh mein Gott«, als nämlich ein Kondom gerissen war, Gott sei Dank außerhalb des Eisprungs. Aber gut, auch diese Zeiten waren jetzt vorbei.
Sie sollten sich Hobbys zulegen, Konrad hatte mit dem Gedanken gespielt, sich eine Golfausrüstung anzuschaffen, aber in seinen Knien wütete die Arthrose. Sie selbst antwortete auf die Frage nach ihren
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