Die Vermessung der Lust (German Edition)
nicht nur am Sinn seiner Arbeit, sondern an der Psyche selbst zu zweifeln begonnen. Sie hatte absolut nichts mit Vernunft zu tun, wahrscheinlich war so etwas wie Logik nichts weiter als eine von gewissen Synapsen erzeugte trügerische Illusion. Stattdessen war sie wie ein launischer Teenager, sprunghaft und unberechenbar, zickig und anschmiegsam, je nach Stimmung, etwas, das sich selbst manipulierte und irgendwann daran glaubte, es sei Wirklichkeit. Wie sollte man so etwas erforschen? Dass Madeleine Vulpius sich ordinären Männern hingab und nun mit Schiffler ein offenbar anregendes und weiß Gott nicht unangenehmes Gespräch führte – Lars erkannte es an Mimik und Gestik der beiden – ,war ebenso unerklärlich wie die Tatsache, dass er selbst hier stand und wartete. Mehr noch. Sogar jetzt, da er dies wusste, jetzt, da ihm sein »Verstand« (er würde ihn von nun an immer in Anführungszeichen setzen) sagte, es sei völlig irre, wartete er weiter.
Dann winkte Schiffler dem Kellner, bezahlte die Rechnung und verließ mit seiner Begleiterin das Café. Lars sprang hinter eine Litfaßsäule, wartete bis das Paar an ihm vorbeigegangen war und folgte ihm in sicherer Entfernung.
Beinahe hätte er sie übersehen, zwei Frauen die einander umarmten und sich innig küssten, so etwas sah man selten in der Öffentlichkeit. Es hätte Lars nicht weiter interessiert, doch dann erkannte er Simone und, große Überraschung, Dora als die Besitzerin des zweiten Mundes, des zweiten gepressten Lippenpaares, Dora, die er selbst vor kurzem auf dem Schreibtisch gevögelt hatte, ohne sie dabei zu küssen, das war ihm deplatziert erschienen, schließlich war es nur ein Gnadenakt gewesen, ein Fick aus Barmherzigkeit.
Er blieb abrupt stehen, suchte Deckung, fand keine, lief in eine der engen Gassen, die vom Platz in alle Richtungen abgingen, rannte an den Schaufenstern schnuckeliger Boutiquen vorbei und stand dann wieder auf dem Platz, von dem Dora und Simone verschwunden waren. Auch von Madeleine Vulpius und Schiffler keine Spur. Da hinten – das Restaurant, das teuerste in der ganzen Stadt. Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt, sah hinein, musste nicht lange suchen. Die beiden hockten in der Nähe einer auf antik getrimmten Säule, unterhielten sich gerade nicht, sondern studierten Speisekarten.
Also wieder warten. Sich sagen, es sei völliger Unsinn, er solle besser nach Hause gehen und sich überlegen, ob sein Talent für Mathematik ausreichte oder doch nur für BWL. Er konnte nicht. Dora und Simone, das Bild verfolgte ihn, ein weiterer Baustein auf dem Weg, die Psyche als das zu entlarven, was sie war: eine Höllenmaschine im Kopf von Lebewesen, die sich damit brüsteten, denken zu können und nicht ahnten, was sie da in ihren Köpfen herumtrugen.
Auf der anderen Seite des Platzes stand eine Imbissbude und schickte den Geruch angekokelter Bratwürste und zu Tode frittierter Pommes über das Kopfsteinpflaster: Er ging hinüber und verlangte eine Currywurst, extra scharf. »Aushilfe gesucht« las er auf einem Schild. Genau. Er würde für den Rest seines Lebens Würstchen, Pommes und Cola verkaufen. Das war ein ehrliches Dasein.
Sie waren nach dem zweiten Kaffee wie selbstverständlich zum Du übergegangen. »Du wirst sehen, Madeleine, wir werden die Psychologie revolutionieren«, hatte Schiffler mit einem Enthusiasmus behauptet, der Madeleine zum Lachen brachte. »Zumindest was ihr Bild von den Gesetzen der Fortpflanzung angeht«, relativierte Schiffler sofort.
Sie nickte. Schiffler lag nicht verkehrt. Schiffler. Den sie zur Rede hatte stellen wollen, eigentlich. Deshalb war sie grußlos und natürlich ohne anzuklopfen in sein Büro gestürmt, hatte sich vor seinem Schreibtisch aufgebaut und »Was soll das?« gefragt, mit ihrer arrogantesten Professorinnenstimme, einem schreckenerregenden Organ voller Aggressivität und Souveränität.
Schiffer hatte nichts darauf gesagt, sie nur lange angeschaut und sie hatte trotzig zurückgeschaut, bis er etwas sagen, bis dieses wie unbeteiligt wirkende Gesicht entgleisen würde. Was es nicht tat. Aber Schiffler sagte schließlich etwas.
Doch mit was für einer Stimme... weich und überlegt, sensibel und leise, einer Stimme, auf der Schifflers Seele wie ein zerbrechliches Boot zu schaukeln schien.
»Die Wahrheit, liebe Kollegin. Ich suche die Wahrheit wie Sie auch, wir sind hinter der Wahrheit her wie der Teufel hinter der armen Seele, wie das Kind im Herbst hinter dem Papierdrachen.
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