Die Vermessung der Lust (German Edition)
Muschi oder...
Dann klingelte das Handy und Schiffler wurde Hals über Kopf aus dem Zuschauerraum geschleudert. Endlich. »Ja?« Er hörte zu, nickte, sagte »Hm« und am Schluss »Okay«, legte das Handy auf den Schreibtisch zurück, streckte die Beine aus, schaute zur Tür und wartete.
*
Er hatte sich von Simone mit einem Küsschen auf die Wange verabschiedet. Nettes Mädchen, durchaus. Vielleicht verstanden sie sich so gut, weil sie nichts von einander wollten, nicht dieses ewige »Körperliche«, von dem seine Mutter stets verächtlich und mit einem Seitenblick auf seinen Vater gesprochen hatte. Wann war das gewesen? Ach ja, als Lars nicht mehr verheimlichen konnte, dass die seligen Zeiten der Selbstbefriedigung, von denen seine Mutter natürlich gewusst und die sie toleriert hatte, vorbei waren. »Denk nicht nur an das Körperliche, wenn du mit einem Mädchen... zusammen bist.« Aha? Woran sonst, wenn man sechzehn ist? Etwa mit ihr reden? Na klar, reden. Um die Zeit zwischen dem einen und dem nächsten »Körperlichen« zu überbrücken.
Mit Simone konnte man reden, obwohl das Thema alles andere als erbaulich gewesen war. Schiffler. Madeleine Vulpius. Seine, Lars' Selbstvorwürfe. Shit happens, hatte Simone nur gesagt und mit den Schultern gezuckt. Ja, passierte. Aber konnte man wieder geraderücken.
Simone kannte ein Mädchen, Lara, die von Schiffler schwanger geworden war und die er nach Holland zur Abtreibung geschickt hatte. Jetzt studierte sie in einer anderen Stadt, die Adresse konnte man rauskriegen, wenn es unbedingt sein musste. »Aber muss wahrscheinlich nicht«, sagte Simone. »Wenn Schiffler weiß, dass wir wissen, was er mit Lara angestellt hat, zieht er den Schwanz ein.«
Hm, klang plausibel. Er würde ihn jetzt aufsuchen und zur Rede stellen, ihm drohen, alle Welt erfahre von Lara, wenn er nicht aufhörte, Madeleine Vulpius zu belästigen oder gar zu erpressen. Er sah Simone nach, die zur Bushaltestelle ging, wartete, ob sie sich noch einmal umdrehte. Tat sie. Man winkte sich zu, dann drehten sich beide um. Lars machte sich auf den Weg zu Schifflers Büro.
Aber dann war es so wie in der Geschichte, die ihm seine Mutter früher immer vorgelesen hatte, die Geschichte von dem Scheinriesen, der aus der Entfernung immer so gigantisch aussah, jedoch wenn er näher kam immer kleiner wurde. Als Lars das Gebäude betrat, hatte er beinahe wieder Normalgröße, seine Knie schlotterten, seine Hände zitterten. Dabei war es gar nicht so schwer. Einfach hineingehen und dem Typen sagen, was Sache war.
Er setzte sich erst einmal auf die Bank im Foyer und atmete durch. War ziemlich heiß heute, er schwitzte sogar leicht. Die Welt sollte einfach aufhören, sich fortzupflanzen. Punkt. Nein, einfacher: Sie sollte aufhören, libidinös zu sein. Jeder Geschlechtsakt müsste Schmerzen bereiten, etwas sein, das man fürchtete, das man nur unter Zwang ausübte. Sex als Bestrafung, Sex als Notwendigkeit, sich zu reproduzieren. Dann, erst dann, hätte es ein Ende mit den Drangsalen des Triebes, mit den Katastrophen der Besamung, dem Desaster des Koitus. Er wäre nicht mehr in Frau Professor Vulpius verliebt, hätte nie seine Hand auf ihr Knie gelegt, sie wiederum sich nicht einem Kretin hingegeben und sogar seinen Schwanz gelutscht. Und er, Lars, müsste hier nicht sitzen und gleich aufstehen, um einen Professor in den Senkel zu stellen. Aber das Leben war nicht so, die Libido regierte. Also würde er jetzt aufstehen, hoch zu Schiffler fahren und ihm erzählen, er wisse alles über Lara und die Abtreibung und wenn er auch nur daran denke, Madeleine Vulpius zu schaden... Da stand er auch schon im Fahrstuhl und drückte auf den Knopf.
Aus Schifflers Büro drangen Stimmen nach draußen auf den Flur. Lars, die Hand schon fast an der Klinke, erstarrte in der Bewegung. Er hatte ohne zu klopfen eintreten, den Professor mit einem »und jetzt hören Sie mir bitte mal zu« überrumpeln wollen – nein, das »bitte« würde er weglassen, wie doof klang das denn – jetzt aber stand er unbeweglich da und lauschte. Stimmen, erregte Stimmen, ein Wortwechsel, kein Zweifel: Das waren Madeleine Vulpius und Schiffler selbst. Zu spät. Der Alte hatte seine Intrige weitergesponnen und erpresste die Kollegin.
Was da gesprochen wurde, konnte Lars nicht verstehen. Die Worte kamen zu undeutlich, außerdem brummte irgendwo in einem Büros ein schlecht geölter Ventilator oder so etwas. Er durfte hier nicht bleiben, schon gar nicht
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