Die Vermessung des Universums: Wie die Physik von morgen den letzten Geheimnissen auf der Spur ist (German Edition)
um fünf Uhr nachmittags erfuhren – nur wenige Tage, nachdem die neuerlichen Strahlen mit ihrem Umlauf begonnen hatten –, dass sie am nächsten Tag schon mit Kollisionen rechnen könnten. Sie hatten erwartet, zwischen den ersten Strahlen nach der Abschaltung und den ersten tatsächlichen Kollisionen, die sie aufzeichnen und messen konnten, etwas Zeit zu haben. Dies sollte nun ihre erste Gelegenheit sein, ihr Experiment mit wirklichen Protonenstrahlen zu überprüfen. In der Zwischenzeit, während sie auf die Reparatur der Maschine warteten, hatten sie kosmische Strahlen verwendet. Die kurzfristige Mitteilung bedeutete jedoch, dass sie nur ganz wenig Zeit hatten, um ihre Computer- Trigger zu rekonfigurieren, die den Computern sagen, welche Zusammenstöße sie aufzeichnen sollen. Maurizio schilderte die Beunruhigung, von der alle ergriffen waren, da sie diese Gelegenheit nicht töricht verpfuschen wollten. Am Tevatron war der erste Test durch eine unglückliche Resonanz des Strahlenumlaufs mit dem Auslesesystem verdorben worden.
Abb. 28: Skizze der LHC-Geschichte
Niemand wollte, dass so etwas noch einmal passierte. Natürlich teilten alle Beteiligten neben einem gewissen Unbehagen eine enorme Begeisterung.
Am 23. November fand am LHC endlich die erste Kollision statt. Millionen von Protonen prallten mit einer Injektionsenergie von 900 GeV aufeinander. Das bedeutete, dass man nach Jahren des Wartens Daten durch Experimente gewinnen konnte – indem man die Ergebnisse der ersten Protonenkollisionen im LHC-Ring aufzeichnete. Wissenschaftler aus dem ALICE-Projekt, einem der kleineren Experimente, reichten am 28. November bereits einen Vorabdruck (einen Artikel, der vor der Veröffentlichung steht) ein.
Kurze Zeit später wurden die Protonenstrahlen mäßig beschleunigt, um 1,18 TeV zu erreichen, Strahlen mit der höchsten Energie, die sich je in Umlauf befanden. Nur eine Woche nach den ersten Kollisionen am LHC, am 30. November, kollidierten diese Hochenergie-Protonen miteinander. Die Netto-Schwerpunktsenergie von 2,36 TeV übertraf die höchsten Energien, die je erreicht wurden, und brach damit den acht Jahre alten Rekord des Fermilabs.
Drei LHC-Experimente registrierten die Kollisionen der Strahlen, und in den nächsten Wochen fanden zehntausende solcher Kollisionen statt. Sie werden zwar nicht zur Entdeckung neuer physikalischer Theorien verwendet, aber sie waren unglaublich nützlich, um festzustellen, dass die Experimente tatsächlich korrekt arbeiteten, und konnten zur Untersuchung des Untergrunds des Standardmodells eingesetzt werden – Ereignisse, die zwar auf nichts Neues hinweisen, aber möglicherweise wirkliche Entdeckungen beeinträchtigen könnten.
Experimentalphysiker auf der ganzen Welt teilten die Freude darüber, dass der LHC Rekordenergien erreicht hatte. Bemerkenswerterweise schaffte der LHC das gerade noch rechtzeitig – es war geplant, dass die Maschine von Mitte Dezember bis März des kommenden Jahres heruntergefahren werden sollte. Also hieß es entweder Dezember oder eine weitere Verzögerung von mehreren Monaten. Jeff Richman, ein Experimentalphysiker aus Santa Barbara, der am LHC arbeitet, teilte mir diese Tatsache auf einer Tagung über dunkle Materie, an der wir beide teilnahmen, freudig mit, da er mit einem Physiker vom Fermilab gewettet hatte, dass der LHC vor Ende 2009 Zusammenstöße mit höherer Energie erreichen würde als das Tevatron des Fermilabs. Seine gute Laune brachte deutlich zum Ausdruck, wer gewonnen hatte.
Am 18. Dezember 2009 wurde die Welle der Begeisterung zeitweise unterbrochen, als der LHC nach diesem Betriebslauf abgeschaltet wurde. Lyn Evans schloss seinen Vortrag mit einer Besprechung der Pläne für 2010, wobei er eine beträchtliche Energieerhöhung versprach. Dem Plan zufolge sollten vor Jahresende 7 TeV erreicht werden – ein massiver Energiezuwachs gegenüber allem, was es in der Vergangenheit gegeben hatte. Er war voller Begeisterung und Zuversicht – was sich als gerechtfertigt erwies, als die Maschine bei dieser höheren Energie wieder in Betrieb genommen wurde. Nach so vielen Höhen und Tiefen arbeitete der LHC schließlich nach Plan (siehe den gerafften Zeitplan in Abbildung 28). Der LHC soll bis 2012 mit 7 TeV oder sogar mit einer etwas höheren Energie laufen, bevor er mindestens ein Jahr lang abgeschaltet wird, um Vorbereitungen für die Erhöhung der Energie möglichst bis auf 14 TeV, die Zielenergie, zu treffen. Bei diesem und
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