Die Vermessung des Universums: Wie die Physik von morgen den letzten Geheimnissen auf der Spur ist (German Edition)
Tag durchquerten zum ersten Mal zwei Protonenstrahlen nacheinander den riesigen Tunnel in entgegengesetzter Richtung. Dieser einzelne Schritt umfasste die Inbetriebnahme der für die Einspeicherung verantwortlichen Teile, den Start der Steuerungsmechanismen und Instrumente, die Überprüfung, ob das Magnetfeld die Protonen auf der Kreisbahn halten würde, und die Sicherstellung, dass alle Magnete wie vorgesehen funktionierten und gleichzeitig betrieben werden konnten. Das erste Mal, als diese Folge von Ereignissen vor ihrer Realisierung stand, war der Abend des 9. September. Doch als am nächsten Tag die Tests stattfanden, lief alles so gut oder besser als geplant.
Alle, die mit dem LHC zu tun hatten, beschreiben den 10. September 2008 als einen Tag, den sie niemals vergessen werden. Als ich einen Monat später zu Besuch kam, hörte ich viele Geschichten über die Euphorie dieses Tages. Mit unglaublicher Aufregung verfolgte man die Bahn zweier Lichtpunkte auf einem Computerbildschirm. Der erste Strahl kam bei seinem ersten Umlauf einigermaßen erfolgreich zurück und folgte mit ein wenig Feinabstimmung der genauen Bahn, die in der ersten Betriebsstunde geplant war. Der Strahl bewegte sich zunächst ein paar Mal um den Ring. Dann wurde jeder nachfolgende Protonenpuls ein wenig korrigiert, so dass der Strahl bald hunderte Male zirkulierte. Kurze Zeit später machte der zweite Strahl dasselbe – wobei er etwa anderthalb Stunden brauchte, um auf den genauen Kurs zu kommen.
Ebenso froh war Lyn darüber, dass er von der gleichzeitig stattfindenden Live-Videoübertragung aus dem Kontrollraum ins Internet nichts wusste. Dort verfolgten die Ingenieure das Projekt, und die Ereignisse wurden gesendet, so dass jeder sie sehen konnte. So viele Menschen schauten sich die beiden Punkte auf ihren Bildschirmen an, dass die Websites wegen Überlastung abstürzten. Menschen in ganz Europa – das Presseamt des CERN behauptet, es seien einige Millionen gewesen – schauten gebannt zu, als die Ingenieure die Bahn der Protonen abänderten, um sie erfolgreich um den vollen Umfang des Rings zirkulieren zu lassen. Unterdessen konnte man im CERN den Nervenkitzel spüren, als Physiker und Ingenieure sich in Hörsälen versammelten, um sich dasselbe anzusehen. Zu diesem Zeitpunkt schienen die Aussichten des LHC mehr als äußerst vielversprechend zu sein. Der Tag war ein sagenhafter Erfolg.
Aber bloß neun Tage später verwandelte sich die Euphorie in Verzweiflung. Zu jener Zeit sollten zwei wichtige neue Aspekte getestet werden. Erstens sollten die Strahlen im Innern des LHC-Rings auf eine höhere Energie beschleunigt werden als beim ersten Test, der bloß mit der Strahleninjektionsenergie areitete, die die Protonen haben, wenn sie zum ersten Mal in den LHC-Ring eintreten. Der zweite Teil des Plans bestand darin, diese Strahlen aufeinanderprallen zu lassen, was natürlich ein bedeutender Meilenstein in der Entwicklung des LHC gewesen wäre.
Doch im letzten Moment – am 19. September – schlug der Test trotz der vielen Überlegungen und Vorsichtsmaßnahmen der Ingenieure fehl. Und dieser Fehlschlag war katastrophal. Ein schlichter Lötfehler in der Kupferummantelung, die zwei Magnete miteinander verbindet, in Kombination mit nicht voll funktionsfähigen Ventilen zur Freisetzung von Helium verursachte eine ganzjährige Verzögerung, bevor die Protonen zum ersten Mal aufeinanderprallen sollten.
Das Problem bestand in Folgendem: Als die Wissenschaftler versuchten, den Strom und die Energie des achten und letzten Sektors hochzufahren, ging ein Verbindungsstück zwischen zwei Magneten entlang der Stromschiene, die sie miteinander verbindet, zu Bruch. Eine Stromschiene ist ein supraleitendes Verbindungsstück, das zwei supraleitende Magnete miteinander verbindet (siehe Abbildung 27). Die Kabelverbindung, die das Anschlussstück zwischen einem Dipolmagneten, der die Strahlen um den Ring leitet, und einem Quadrupol-Magneten, der die Strahlen für die Kollision fokussiert, zusammenhält, war der Übeltäter. Die fehlerhafte Verbindung erzeugte einen elektrischen Überschlag, der die Umhüllung, in der sich das Helium befindet, durchlöcherte, wodurch sechs Tonnen flüssiges Helium – das gewöhnlich langsam erwärmt werden würde – plötzlich freigesetzt wurden. Die Supraleitfähigkeit ging bei diesem Abschreckvorgang verloren, der stattfand, als sich das flüssige Helium erwärmte und in Gas zurückverwandelte.
Abb. 27: Eine
Weitere Kostenlose Bücher