Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
gründlich gelernt. Aus dem Opfer, dem missbrauchten Jungen, war ein Täter geworden. Der Sohn des Mörders war selbst zum Mörder geworden. Außer Hass konnte ich nichts für ihn empfinden.
Mum rührte sich auf ihrem Sessel. » Wie ist Charlie gestorben? Sie haben mir noch nicht gesagt, wie er meinen Sohn umgebracht hat.«
Die Frage war Vickers sichtlich unangenehm. » Das wissen wir leider noch nicht. Das können wir erst herausfinden, wenn wir den Leichnam gefunden und obduziert haben. Und selbst dann, nach so vielen Jahren, werden wir wahrscheinlich nur skelettierte Überreste vorfinden. Knochen also«, erklärte er und hatte wahrscheinlich meinen entsetzten Blick fehlinterpretiert. Selbstverständlich konnte ich mit dem Begriff etwas anfangen, ich verstand nur nicht, warum er ihn vor meiner Mutter verwenden musste.
Doch statt völlig zusammenzubrechen, wie ich es eigentlich erwartet hatte, nickte Mum. Als ich das sah, hatte ich zwar nicht unbedingt ein allumfassendes Aha-Erlebnis, aber mir dämmerte etwas. Es war die ganz leise Ahnung, dass jene Frau, die ich glaubte zu kennen, in Wirklichkeit ganz anders war, als ich dachte. Was ich sah, war Stärke. Stärke und Unerschütterlichkeit, auch wenn ich das bis dahin weder erlebt noch wahrgenommen hatte.
Vickers fuhr fort und zog einen Vorhang wieder auf, der vor sechzehn Jahren gefallen war. » Es dauerte sehr lange, das Grab auszuheben. Danny meint, dass sein Vater über zwei Stunden dazu brauchte. Vermutlich war der Boden hart und voller Wurzeln. Es war schwer, in eine auch nur annähernd ausreichende Tiefe vorzudringen. Doch er muss wild entschlossen gewesen sein, denn er erledigte diese Arbeit gründlich. Die meisten Gräber erkennt man schon aus der Ferne. Tiere werden davon angelockt. Sie nehmen die Verwesung wahr und graben die Leiche aus– oder Teile davon– und geben uns damit Hinweise, dass dort etwas nicht stimmt. Oder man kann noch sehen, wo die ausgehobene Erde über der Leiche aufgehäuft wurde– Grabhügel sind unverkennbar. Bei Derek Keane aber muss man sagen: Er fand eine Stelle, an der kaum Leute vorbeikamen, und das Loch, das er grub, war tief genug. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum Charlie nie gefunden wurde.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass seine Frau und sein Sohn viel zu große Angst vor ihm hatten, als dass sie jemandem von diesen Ereignissen erzählt hätten. Und obendrein war er clever genug, Danny in die Beseitigung der Leiche einzubeziehen. Ada wollte ganz bestimmt ihren Sohn nicht in Schwierigkeiten bringen, ganz egal wie verlockend es auch gewesen sein mag, ihren Mann für immer hinter Schloss und Riegel zu bringen. Er hatte sie ja fortgeschickt, während er mit der Leiche beschäftigt war, sodass sie sich vielleicht nicht hundertprozentig sicher war. Aber selbst wenn sie einen Verdacht hegte, wird sie dem nicht weiter nachgegangen sein. Und Derek hatte Danny erfolgreich eine Höllenangst eingejagt. Der Junge hat nie ein Sterbenswörtchen zu jemandem gesagt. Er war sich ganz sicher, dass auch er im Knast landen würde. Sein Vater hatte ihm auseinandergesetzt, dass seine Tat als die schlimmere angesehen werden würde, denn während er, Derek, im Affekt gehandelt hatte, war seine Hilfe beim Beseitigen der Leiche ja eine kaltblütige Tat.«
» Armes Kind«, erwiderte Mum, und ich sah sie überrascht und schockiert an, bevor mir einfiel, dass sie ja nicht wusste, was er Jenny angetan hatte. Ich war überzeugt, dass Danny böse war, durch und durch böse, und es interessierte mich nicht im Geringsten, warum er so geworden war.
» Warum hat er Ihnen das alles jetzt erzählt?«
Vickers rutschte ein wenig auf der Sofakante herum. Ich starrte ihn beschwörend an, denn ich wollte nicht, dass Mum von meiner Verstrickung in diese Sache erfuhr. Allein der Gedanke, ihr das alles erklären zu müssen, ließ mich fast ohnmächtig werden.
» Ähm… Wir haben neue Informationen erhalten, die dazu führten, dass wir Recherchen zu Mr. Keanes Umfeld durchgeführt haben. Um ganz ehrlich zu sein, Mrs. Barnes, ich glaube, er hat förmlich darauf gewartet, dass man ihn dazu befragt. Kaum hatten unsere Vernehmungsbeamten Charlies Namen erwähnt, fing er an, uns alles zu erzählen. Wir haben auch noch über eine andere Sache mit ihm gesprochen, und man darf sagen, dass er dabei weniger mitteilsam war.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, und ich unterdrückte ein Seufzen. Natürlich würde Danny den Mord an Jenny niemals
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