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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Gedanke schien wenig brauchbar, vor allem weil mein Auto ja noch immer keinen Pannendienst gesehen hatte und somit auch noch nicht wieder fuhr. Aber meine Unlust, ihr zu erklären, was ich in dieser Straße zu suchen hatte und weshalb mein Auto schon so lange hier stand, hatte in letzter Zeit noch beträchtlich zugenommen. Ich musste mir also etwas einfallen lassen. Davon abgesehen wollte ich den beiden Shepherds unbedingt etwas sagen. Eine bessere Gelegenheit würde sich wohl kaum finden lassen. Vielleicht sollte es ja so sein.
    Ich ging also durch das Gartentor zum Eingang, begleitet vom prüfenden Blick des Polizisten, der mich unter den Kirschbaumzweigen hervor beobachtete.
    » Ich hatte gerade überlegt, ob es vielleicht möglich wäre, mit dem Ehepaar Shepherd zu sprechen? Ich hatte bisher nie Gelegenheit, mit ihnen über das zu reden, was Jenny zugestoßen ist, und– na ja, das wäre mir eben sehr wichtig.«
    Hinter Valeries Rücken bewegte sich jemand im Haus, und ich hörte das Grummeln einer Stimme, die zu tief war, als dass ich von meinem Standort aus die Worte hätte verstehen können. Valerie trat einen Schritt beiseite.
    » Na meinetwegen. Dann kommen Sie mal rein, Sarah.«
    Im Flur fühlte ich mich plötzlich verlegen und beschäftigte mich damit, eine Abstellmöglichkeit für meinen tropfenden Schirm zu finden und meine Jacke auszuziehen. Der Raum war angefüllt von schwerem, aufdringlichem Liliengeruch, doch die leicht modrige Nuance darin ließ ahnen, dass die Blumen schon im Verblühen waren. Als Quelle machte ich ein aufwändiges Bouquet gleich neben dem Telefon aus. Die dicken weißen Blütenblätter waren weit zurückgerollt und zeigten schon welke braune Flecken. Der Strauß war achtlos in die Vase gestopft worden– niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Klarsichtfolie aus dem Blumenladen zu entfernen.
    » Wollen Sie einen Tee?«, fragte Valerie und verschwand auf mein Nicken in der Küche, sodass ich im Flur zurückblieb und nicht recht wusste, wohin mit mir. Ich sah mich um und erstarrte, als mein Blick auf die Treppe fiel. Auf der vorletzten Stufe saß Michael Shepherd mit den Unterarmen auf den Knien. Er drehte seine großen Hände, um die Innenseiten zu studieren, dann ließ er sie fallen. Als er aufblickte, erschrak ich wieder einmal über seine pechschwarzen Augen, wie schon so oft. Sie brannten noch immer mit unbändiger Intensität, die mir allerdings jetzt mehr wie das letzte Auflodern eines fast ausgebrannten Feuers vorkam. Er wirkte erschöpft, aber kein bisschen milde. Aus seiner anfänglichen Selbstsicherheit und Energie war purer Durchhaltewillen geworden. Ich musste plötzlich an meinen Vater denken und fragte mich, ob er wohl genauso stark oder genauso zerstört gewesen war wie dieser Mann, der hier vor mir saß.
    » Was wollen Sie?« Seine Stimme klang rau und heiser, als hätte er in letzter Zeit nur wenig gesprochen.
    » Ich würde gern mit Ihnen und Mrs. Shepherd sprechen«, brachte ich hervor und versuchte, dabei möglichst ruhig und gelassen zu wirken. » Ich– na ja, ich kann möglicherweise besser als die meisten anderen Menschen verstehen, was Sie gerade durchmachen. Und ich möchte Ihnen gern etwas sagen. Etwas, das Sie wissen sollten, wie ich finde.«
    » Tatsächlich?« Sein Ton war so desinteressiert, dass es schon an eine Beleidigung grenzte, und triefte vor Sarkasmus. Mir schoss das Blut in die Wangen, und ich biss mir auf die Unterlippe. Er seufzte, erhob sich dann aber. » Na, dann reden Sie mal mit uns.«
    Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, wo alles auf ein einst sicheres und aufstrebendes Leben hindeutete, das nun grausam und unumkehrbar zerstört war. Auf nahezu jeder verfügbaren Fläche und an den Wänden hingen Fotos von Jenny. Fotos mit Pony und Ballettröckchen und Bikini– all den Insignien eines Mädchens aus der Mittelschicht, dem es an nichts fehlte. Sie hatten ihr alles Erdenkliche ermöglicht, was ihren Freundinnen aus besser gestellten Familien vermutlich auch zuteilwurde. Ich sah die Fotos und Jennys Lächeln und dachte unweigerlich, dass wahrscheinlich niemand sie wirklich gekannt hatte. Trotz allem, was ich mittlerweile über ihr geheimes Leben erfahren hatte, verstand ich kein bisschen mehr über sie. Ich wusste, was sie getan hatte, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum. Und so ging es allen anderen vermutlich auch. Das Einzige, worauf wir bauen konnten, waren Daniel Keanes Lügen.
    Das Haus stand auf einem eher bescheidenen

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