Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Grundstück, doch auch hier hatte sich das Bedürfnis nach sozialem Emporkommen ungezügelt seinen Weg gebahnt. Es war irgendwann einmal vergrößert worden, und das Erdgeschoss kam mir doppelt so groß vor wie das Haus, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Verglaste zweiflügelige Türen trennten das Wohnzimmer von einem Esszimmer. Von dort aus führten optisch passende Türen hinaus auf eine Terrasse, die mit Gartenmöbeln vom Feinsten und einem eingebauten Grill ausgestattet war. Die Küche, in die ich durch die offene Tür sehen konnte, war mit cremefarbenen Einbauschränken und Arbeitsflächen aus schwarzem Marmor teuer ausstaffiert. Ein gigantischer Fernseher dominierte das Wohnzimmer. Der Bildschirm war so groß, dass das Bild verzerrt wirkte. Der Ton war ausgeschaltet, und man sah nur eine Sprecherin von Sky News mit überdeutlicher Artikulation und bemüht wirkendem Ernst Nachrichten vom Teleprompter ablesen. Gegenüber dem Fernseher stand ein großes Sofa, auf dem Mrs. Shepherd saß und mit verschränkten Armen und leerem Blick auf den Fernseher starrte. Sie blickte nicht auf, als ich ins Wohnzimmer kam. So blieb mir genug Zeit, die enorme Veränderung festzustellen, die auch mit ihr stattgefunden hatte. Ihre Haut war fleckig und um Augen und Nase herum entzündet. Wie schon beim letzten Mal hingen ihre Haare dünn und strähnig herunter. Sie trug Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe. Von dem glamourösen Stil, den sie einst gepflegt hatte, war nichts geblieben. Ihre Kleidung war allenfalls zweckmäßig und hing schlaff an ihrem Körper. Während Michael Shepherd vor Zorn glühte, schien seine Frau in Trauer erstarrt zu sein.
» Setzen Sie sich«, befahl er barsch und wies auf einen Sessel, der schräg zum Sofa stand. Er selbst setzte sich neben seine Frau, nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass sich seine Knöchel weiß verfärbten. Das provozierte zwar einen kurzen Aufschrei des Protests bei ihr, schreckte sie aber immerhin aus ihrer Traumwelt auf.
» Diane, hier ist… eine von Jennys Lehrerinnen.« Er starrte mich ausdruckslos an und wischte sich mit der Hand über die Stirn. » Tut mir leid, aber ich habe Ihren Namen vergessen.«
» Sarah Finch. Ich war Jennys Englischlehrerin.«
» Und was genau wollten Sie uns sagen?« Er klang argwöhnisch, fast schon böse. Hoffnungslos starrte mich Diane Shepherd an. Ich richtete mich auf und presste die Hände aneinander.
» Ich wollte eigentlich nur mit Ihnen reden wegen– wegen dem hier.« Ich deutete auf den Fernseher, wo ein Reporter vor einem waldartigen Hintergrund stand und sprach. Das rote Schriftband am unteren Rand des Bildschirms verkündete: » Polizei findet Leiche an Bahndamm– möglicherweise den seit 1992 vermissten Schüler Charlie Barnes.« Die Live-Schaltung wurde ausgeblendet, und das üblicherweise in den Medien gezeigte Foto von Charlie kam ins Bild– das Klassenfoto, wo er offen und lebensfroh in die Kamera grient. Ich drehte mich wieder zu Mr. und Mrs. Shepherd um, die verständnislos auf den Bildschirm schauten. » Charlie ist– oder, besser gesagt, war– mein Bruder. Ich war acht Jahre alt, als er verschwand. Heute morgen hat die Polizei seinen Leichnam gefunden.«
» Tut mir leid, das zu hören.« Michael Shepherd hatte seine Zähne so fest aufeinandergepresst, dass die Worte kaum hindurchpassten.
» Die Sache ist die, dass er von Danny Keanes Vater ermordet wurde.« Ich wusste, dass dieser Name augenblicklich ihre Aufmerksamkeit wecken würde. Und jetzt kam der schwierige Teil. » Als Jenny verschwunden war, hat das all meine Erinnerungen wieder geweckt. Ich war von Anfang an– ich war irgendwie einbezogen. Also, ich war es, die Jenny gefunden hat, im Wald– aber das wissen Sie bestimmt schon.«
Die beiden starrten mich an. Dianes Mund stand leicht offen, sie wirkte wie benommen. Ihr Mann runzelte die Stirn, ohne dass ich es mir recht erklären konnte. » Aber ja, ich erinnere mich. Sie sind doch ständig überall aufgetaucht.«
» Tee ist fertig!« Valerie kam mit einem Tablett voller Teetassen hereingeklappert. » Ich wusste nicht, ob Sie Zucker wollen, Sarah. Ich hab ihn einfach mit aufs Tablett gestellt und Milch auch. Nehmen Sie sich einfach, was Sie brauchen. Wie Sie beide Ihren Tee mögen, weiß ich ja inzwischen«, verkündete sie und kicherte unangebracht, als sie sich herabbeugte und die Shepherds ihre Teetassen vom Tablett nehmen ließ. Danach standen noch zwei Tassen auf dem Tablett,
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